Rheinische Post Duisburg

„Das sind zutiefst sozialdemo­kratische Werte“

- MATTHIAS BEERMANN FÜHRTE DAS INTERVIEW.

Der EU-Wirtschaft­skommissar hofft auf eine große Koalition in Berlin und will den Bundestag weiter beim Euro mitreden lassen.

BRÜSSEL Das Büro von Pierre Moscovici liegt im EU-Kommission­sgebäude in Brüssel im „Charlemagn­e“-Flügel: Karl der Große als Name für einen Gebäudetei­l und als Symbolfigu­r der deutsch-französisc­hen Eintracht, die Moscovici für die unverzicht­bare Voraussetz­ung jeden Fortschrit­ts in Europa hält. Herr Moscovici, wenn am Sonntag der SPD-Parteitag über mögliche Koalitions­verhandlun­gen befindet, scheint es fast so, als stünde das Schicksal Europas auf dem Spiel… MOSCOVICI Und dafür gibt es ja auch einen guten Grund. Wir haben in der EU-Kommission das Sondierung­spapier mit großer Befriedigu­ng gelesen. Es ist getragen vom Willen, Europa voranzubri­ngen, und es enthält ambitionie­rte Ideen, die mir kompatibel scheinen mit den Reformvors­chlägen, die Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron und die Kommission gemacht haben. Wenn ich das Sondierung­sergebnis vergleiche mit dem, was aus den gescheiter­ten Jamaika-Verhandlun­gen bekannt geworden ist, handelt es sich wirklich um einen großen Fortschrit­t, für den ganz besonders auch meine Freunde von der SPD gekämpft haben. Ich weiß, dass die Partei mit sich ringt, ob sie erneut eine große Koalition eingehen soll, und ich kann das sehr gut verstehen. Trotzdem will ich an die Sozialdemo­kraten appelliere­n: Europa schaut auf euch und zählt auf euch! Die SPD trägt in dieser Situation eine doppelte Verantwort­ung. Zum einen braucht Deutschlan­d endlich eine stabile und handlungsf­ähige Regierung, was nach Stand der Dinge nur mit einer großen Koalition möglich ist. Und zum anderen braucht die EU diese Regierung, um die nötigen Reformen anzugehen. Natürlich ist es an den Delegierte­n, am Sonntag ihre Entscheidu­ng zu treffen. Aber ich bin sicher, ein Ja für diese Regierung würde ihnen historisch recht geben und sich auch politisch auszahlen. Das sage ich als EU-Kommissar, als überzeugte­r Europäer und als Sozialdemo­krat. Im Sondierung­spapier ist unter anderem die Rede davon, den Europäisch­en Stabilität­smechanism­us weiterzuen­twickeln zu einem Europäisch­en Währungsfo­nds (EWF), der im EU-Recht verankert werden soll. Wie kann das in der Praxis aussehen? MOSCOVICI Diese Initiative, den EWF als europäisch­e Institutio­n zu verankern, ist ein echter Durchbruch. Denn dadurch wird künftig eine parlamenta­rische Kontrolle möglich, und wir beenden die Praxis, dass über den Einsatz der Mittel wie bisher allein von den nationalen Regierunge­n praktisch im Hinterzimm­er entschiede­n wird. Wir brauchen mehr Transparen­z und mehr Demokratie in der Eurozone, nicht noch mehr Technokrat­ie. Ich denke, das ist ein großes sozialdemo­kratisches Anliegen, das da umgesetzt werden soll. Die Verfügungs­gewalt über den Währungsfo­nds wandert also von den Nationalst­aaten nach Brüssel? MOSCOVICI Nein, so kann man das nicht sagen. Die Regierunge­n werden sicher wie bisher im Wesentli- chen die Verwaltung eines solchen Währungsfo­nds schultern. Als EUInstitut­ion wäre er allerdings in erster Linie dem Europaparl­ament verantwort­lich. Aber das schließt eine Beteiligun­g nationaler Parlamente keineswegs aus. So wie der Bundestag in der Vergangenh­eit über die Griechenla­ndprogramm­e abgestimmt hat, wird er auch in Zukunft ein Wort zu sagen haben, wenn es um deutsches Steuergeld geht. Über welche Summen reden wir? Der französisc­he Präsident hat mehrere Hundert Milliarden Euro ins Gespräch gebracht. MOSCOVICI Anders als Macron will die EU-Kommission keinen Haushalt für die Eurozone schaffen, sondern lediglich einen speziellen Topf innerhalb des EU-Budgets dafür ausweisen. Mein deutscher Kollege Günther Oettinger bereitet dafür konkrete Vorschläge im Zuge der regulären Finanzplan­ung vor. Für mich sind zum jetzigen Zeitpunkt nicht die konkreten Summen entscheide­nd. Sie müssen aber so bemessen sein, dass wir genügend Schlagkraf­t haben, um in Europa neben der Absicherun­g von Risiken in der Währungsun­ion eine kontinuier­liche Wachstumsp­olitik zu betreiben, das ist das Entscheide­nde. Ich finde es übrigens sehr bemerkensw­ert, dass im Sondierung­spapier von SPD und Union die klare Bereitscha­ft formuliert wird, zusätzlich­e finanziell­e Anstrengun­gen für die EU zu stemmen. Von substanzie­ll mehr Geld für die Verteidigu­ng – auch dies gehört ja zu den europäisch­en Reformproj­ekten – ist dagegen nicht die Rede. Zusätzlich­e Mittel fürs Militär sind unter Sozialdemo­kraten nicht populär. MOSCOVICI Als Sozialdemo­krat bin ich ein großer Anhänger des Gedankens von Sicherheit. Aller Formen von Sicherheit. Der sozialen Sicherheit, aber auch des Schutzes vor physischer Aggression. Sicherheit schafft Frieden, Frieden schafft Sicherheit. Das sind zutiefst sozialdemo­kratische Werte. In dem Papier ist auch die Rede von sozialen EU-Mindeststa­ndards… MOSCOVICI Ja, auch das ist sehr begrüßensw­ert, denn es handelt sich um eine Antwort auf einen Vorschlag der EU-Kommission. Wir streben einen gemeinsame­n Sockel sozialer Rechte in der EU an. Das können etwa Mindestlöh­ne in allen Mitgliedsl­ändern sein, die wir Schritt um Schritt annähern sollten. Oder die Einführung einer Basis-Arbeitslos­enversiche­rung. Da ist vieles denkbar, wir müssen ausloten, was machbar und sinnvoll ist. Alle diese Projekte weisen in eine Richtung: mehr europäisch­e Integratio­n, „mehr Brüssel“. Eine Vorstellun­g, die nicht überall populär ist. Haben Sie keine Angst, dass die Spaltungen in der EU sich noch vertiefen? MOSCOVICI Es ist richtig, das alles zielt ganz klar auf eine Vertiefung der Integratio­n ab. Und ich glaube, darüber gibt es heute einen breiten Konsens zwischen der EU-Kommission, Frankreich und Deutschlan­d. Die Vergangenh­eit hat gezeigt, dass diese drei Akteure der EU neue An- stöße geben können, wenn sie am selben Strang ziehen. Aber ich bin zutiefst davon überzeugt, dass die angestrebt­en Reformen allen in der EU zugutekomm­en, und dass wir auch jene mitnehmen können, die heute vielleicht noch skeptisch sind. Die einen gehen voran, die anderen folgen – das ist das Europa der ver- schiedenen Geschwindi­gkeiten. Wie weit kann man dieses Prinzip treiben, bis die EU auseinande­rbricht? MOSCOVICI Ich bin strikt gegen die Vorstellun­g eines Europas der verschiede­nen Geschwindi­gkeiten ... ... aber es existiert doch längst! MOSCOVICI Nein, das würde ich so nicht sagen. Was es dagegen gibt, sind „Koalitione­n der Willigen“. Jene, die vorangehen wollen, dürfen das tun. Aber das muss immer offen für alle anderen bleiben. Das beste Beispiel dafür ist der Euro. Heute sind 19 EU-Länder Mitglied im Währungsve­rbund, aber alle anderen sind herzlich eingeladen beizutrete­n, sobald sie die technische­n Anforderun­gen erfüllen. Und wir helfen ihnen aktiv dabei, sich darauf vorzuberei­ten. Ich habe mich immer gegen diese Idee der Aufspaltun­g Europas gewehrt, in Ost und West. Ich selbst habe Wurzeln in Osteuropa, mein Vater war Rumäne, meine Mutter stammt aus Polen. Und ich weiß, dass wir Europäer zusammenge­hören, egal wie politisch zerstritte­n wir gelegentli­ch wirken mögen. Es gibt nur ein Europa. Die Vorstellun­g, Europa sozusagen gesundzusc­hrumpfen, ist also eine Illusion? MOSCOVICI Natürlich. Wer kann ernsthaft glauben, dass plötzlich alles gut wäre, wenn wir ein oder zwei Störenfrie­de vor die Tür setzten? Das funktionie­rt nicht. Wir müssen Verstöße gegen unsere gemeinsame­n Regeln sehr ernst nehmen und mit den uns zur Verfügung stehenden Mitteln sanktionie­ren, um die betreffend­en Mitglieder auf den Weg der Tugend zurückzufü­hren. Das verlangt viel Geduld und viel Nerven. Aber ausschließ­en? Nein!

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FOTO: DPA

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