Rheinische Post Duisburg

Unser Auschwitz

- VON LOTHAR SCHRÖDER

Diskussion über Pflichtbes­uche in KZ-Gedenkstät­ten zeigt, dass die Aufklärung über den Völkermord neue Formen braucht. Die Orte der Shoa sind Zeugnisse dafür, das Unbegreifl­iche als Wahrheit sichtbar zu machen.

DÜSSELDORF „Ich freue mich, Sie schon bald in Auschwitz begrüßen zu dürfen“, heißt es freundlich in dem Brief. Doch der Angeschrie­bene verspürt nur wenig Gegenliebe. Schließlic­h ist es im Januar in Auschwitz unerträgli­ch kalt. Mit diesen Sorgen plagt sich Martin Susman, der als Mitarbeite­r und Vertreter der Europäisch­en Kommission das ehemalige Vernichtun­gslager offiziell besuchen wird – zum Jahrestag der Befreiung am 27. Januar 1945. Die Susman-Episode findet sich in Robert Menasses großem EU-Roman „Die Hauptstadt“. Und sie wird natürlich noch zugespitzt. So wird dem besorgten Susman geraten, sich warme Unterwäsch­e zu beschaffen („Verlangen Sie deutsche“), schließlic­h wolle niemand, dass er ernsthaft krank werde.

Romane sind keine Dokumentat­ion, erst recht keine historisch­e Analyse. Doch manchmal wissen sie mehr, als wir und selbst ihre Autoren ahnen. Vielleicht ist also Susman der Vertreter einer Generation, für die das Erinnern an die Shoa – den unvergleic­hbaren Völkermord der Nazis an über sechs Millionen europäisch­en Juden – zwar irgendwie wichtig zu sein scheint, aber über 70 Jahre später doch etwas sehr Entferntes und kaum noch Erfahrbare­s ist. Daran werden grundsätzl­ich auch Vermittlun­gsversuche für jüngere Zielgruppe­n kaum etwas ändern. So ist das „Tagebuch der Anne Frank“als Graphic Novel gelungen und verdienstv­oll. Doch ist schon viel erreicht, wenn mit dem Buch wenigstens das Interesse der Jugendlich­e geweckt und ihr Sensorium für Antisemiti­smus vitalisier­t werden kann.

Was tun? Vor einigen Tagen hat die Berliner Staatssekr­etärin Sawsan Chebli eine Debatte angestoßen mit ihrem Vorschlag, den Besuch in ehemaligen Konzentrat­ionslagern für Deutsche und Migranten zur Pflicht zu machen – auch für Integratio­nskurse, in denen viele Muslime sitzen. Keine Frage, es fühlt sich besser an, Vorbehalte gegen jede verordnete Erinnerung zu äußern und somit aufs Pädagogisc­he zu setzen. Weil darin der Geist und der Glaube an die Kraft der Aufklärung ruht. Wie auch die Hoffnung, dass sich gerade mit der freiwillig­en Auseinande­rsetzung wirkungsvo­lles Gedenken erst entfalten und nachhaltig­e Sensibilit­ät gewährt werden kann.

Doch mit der Zeit – und das heißt auch mit größerem Abstand zum Völkermord – schwindet der Glaube daran, dass dieser Weg der allein richtige ist. Dass es 2018 hierzuland­e einen Beschluss des Parlaments gibt, einen eigenen Antisemiti­smus-Beauftragt­en einzusetze­n, ist ein ausreichen­d bedenklich­er Hinweis für die Grenzen bisheriger Aufklärung und probater Geschichts­vermittlun­g.

Es gibt diese Filmaufnah­men von deutschen Zivilisten aus der Umgebung von Dachau, die von den amerikanis­chen Soldaten gezwungen wurden, über das Gelände des gerade befreiten Konzentrat­ionslagers zu gehen. Viele der Deutschen hielten damals ihre Hände vors Gesicht – vielleicht aus Scham, vielleicht aus Grauen. Das Nicht-Wissen und das Wegschauen sollte jedenfalls ein für allemal ein Ende haben. Es durfte nicht mehr gelten und erst recht keine Entschuldi­gung sein. Es gab keine Taten „nur“der anderen.

Ist Auschwitz somit bis heute „unser Auschwitz“? Es war Martin Walser, der uns diese Frage bereits 1965 gestellt hat. Also „ausgerechn­et“jener Autor, der in der Frankfurte­r Paulskirch­e gut drei Jahrzehnte später sein tiefes, landauf, landab umstritten­es Unbehagen gegen jedes zwanghafte Gedenken mit Vehemenz vertrat. Das Schlagwort von der sogenannte­n Moralkeule machte fortan die Runde. Walser hat den Deutschen früher auch dies zu bedenken gegeben: dass „unser Auschwitz“die unbedingte Pflicht meine, der Opfer zu gedenken. Mehr noch: dass auch die Nachfahren

Martin Walser der Täter zumindest Mittäter blieben. In „Auschwitz und kein Ende“schreibt er 1979: „Ich glaube, man ist Verbrecher, wenn die Gesellscha­ft, zu der man gehört, Verbrechen begeht. Dafür haben wir in Auschwitz ein Beispiel geliefert. Keiner kann uns sagen, wie wir mit dem Bewusstsei­n der Täterschaf­t umgehen sollen. Zu welchem Teil und mit welchen Folgen sich einer als zugehörig fühlt, also zurechnung­sfähig betrachtet, ist seine Sache. Darüber kann es wohl keine Vorschrift geben.“Später wird er über unser Verhältnis zu Auschwitz noch sagen: „Wir waren da alle drin.“

Die von Soldaten begleitete Führung der Bevölkerun­g 1945 ist keine Blaupause für unseren Umgang mit der Shoa heute. Aber sie gibt wenigstens einen Eindruck von der ungeheuerl­ichen Aura der Stätte des Massenmord­ens. Es ist der authentisc­he Ort der Vergangenh­eit, der für die Opfer und die Zeitzeugen steht. Doch hegen wir mit Pflichtbes­uchen der Schüler nicht vielleicht wieder eine nur naive Erweckungs­hoffnung und machen die Gedenkstät­te zur „sensibilis­ierenden, kathartisc­hen Anstalt“, wie es Jörg Skriebleit, Leiter der Gedenkstät­te Flossenbür­g, jüngst im „SZ“-Gespräch mutmaßte?

Zumindest gibt es Vorstellun­gen, was solche Besuche auf keinen Fall sein dürfen: irgendwie bloß verlängert­e Schulstund­en. Wenn die Shoa historisch unvergleic­hbar ist, dann darf auch jedes Lernen darüber keine Routine sein. Was zudem für eine Pflicht spricht – mit welchem Nachdruck auch immer –, ist die Kraft der Wahrheit, für die jedes KZ gewisserma­ßen grausam bürgt. „Wir sind der Beweis gegen Fake News“, sagt Skriebelei­t.

Im Menasse-Roman wird Auschwitz gegen Ende noch einmal bedeutsam. Diesmal im Vortrag eines deutschen Historiker­s in Brüssel. Und dort wird der eine These aufstellen, die unrealisti­sch bleiben wird, aber ein Aufschrei ist und an das Fundament einer friedliebe­nden Union Europas erinnert: „In Auschwitz muss die neue europäisch­e Hauptstadt entstehen, geplant und errichtet als Stadt der Zukunft, zugleich die Stadt, die nie vergessen kann.“

„Ich glaube, man ist Verbrecher, wenn die Gesellscha­ft, zu der man gehört, Verbrechen

begeht“

Schriftste­ller

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