Rheinische Post Duisburg

Die Entgrenzun­g der Welt

- VON JÜRGEN RÜTTGERS

Viele Menschen fühlen sich angesichts der rasanten globale Veränderun­gen überforder­t. Aber der Wandel ist zu meistern.

DÜSSELDORF Wir leben im Zeitalter der Globalisie­rung und Digitalisi­erung. Viele Menschen leben in Angst und Wut, weil sie sich vor den Zumutungen dieser epochalen Veränderun­gen fürchten. Erstmals in der Geschichte der Menschheit werden Grundbedin­gungen menschlich­en Lebens ihrer Grenzen beraubt.

Der Raum menschlich­er Existenz ist nicht nur durch die Eroberung des Weltraums entgrenzt. Der technische Fortschrit­t hat uns auch Einblick in die kleinsten Einheiten menschlich­en Lebens und unserer Lebenswelt ermöglicht. Die durch Smartphone­s gesteuerte Völkerwand­erung umfasst aktuell nach Aussagen der UN-Flüchtling­shilfe mehr als 60 Millionen Menschen, die ihre Heimat verlassen und Grenzen überschrit­ten haben. Bis zu fünf Millionen Menschen warten in der Türkei, im Libanon, in Jordanien und im nördlichen Afrika auf neue Lebenschan­cen.

Der weltweite Terror hat zu einer Entgrenzun­g der Sicherheit geführt. Die digitale Überwachun­g des öffentlich­en Raumes hat einen Verlust der Privatheit zur Folge. Fünf amerikanis­che Firmen haben ein Monopol auf die Nutzung des Großteils der Daten, die auf der Welt gesammelt und verarbeite­t werden. Die gleichen Firmen verfügen über die meiste Kapazität der Hochleistu­ngs-KI (Künstliche Intelligen­z).

Die Aufhebung des Bankgeheim­nisses, die disruptive Ökonomie, die Markenpira­terie haben die Regeln der Sozialen Marktwirts­chaft stark verändert. Nicht der Produzent, sondern der Konsument und seine Daten sind wichtig. Nicht die Informatio­n, sondern die Zustimmung zur Informatio­n ist in Zukunft wichtig. Nichts ist mehr geheim. Immer mehr werden Verträge und Gesetze politisch infrage gestellt. Viele Menschen fühlen sich angesichts dieser fundamenta­len Veränderun­gen überforder­t. Sie suchen nach Sicherheit und fordern neue nationalst­aatliche Grenzen. Sie wollen zurück in die gute alte Zeit. Im Internet findet der Austausch von individuel­len Meinungsäu­ßerungen statt und nicht der öffentlich­e Diskurs, der erst die Entstehung einer öffentlich­en Meinung möglich macht.

Das „normative Projekt der westlichen Welt“ist geprägt von unverrückb­aren Werten und Rechten. Zum inneren Kern dieses Projekts gehören die unveräußer­lichen Menschen- und Bürgerrech­te, der Rechtsstaa­t, d. h. auch die Trennung von gesetzgebe­nder, vollziehen­der und rechtsprec­hender Gewalt und damit die Unabhängig­keit der Justiz. Weiterhin gehören dazu die repräsenta­tive Demokratie und die Volkssouve­ränität.

Mancher glaubt, dass Demokratie, nationale Souveränit­ät und wirtschaft­liche Globalisie­rung sich widersprec­hen. Deshalb müssen sich die westlichen Staaten entscheide­n, wenn sie die Globalisie­rung weiter vorantreib­en wollen, entweder vom Nationalst­aat, also der Verbindung von Nation und Staat, oder von der Demokratie Abschied zu nehmen.

Die europäisch­e Antwort auf dieses Dilemma war bisher die Teilung der Souveränit­ät zwischen der EU und den Mitgliedst­aaten. Zusammen mit dem Wegfall der Binnen- grenzen in Europa hat dies zu einer Teilung der Souveränit­ät geführt. Eine andere Lösung gibt es nicht, weil sich gleichzeit­ig die Verbindung zwischen Nation und Staat auflöst, so wie wir seit dem 16. Jahrhunder­t eine Trennung von Staat und Religion als notwendige Voraussetz­ung für ein friedliche­s Zusammenle­ben der Völker akzeptiert haben. Auch in Zukunft wird es Nationen als freiwillig­en Zusammensc­hluss von Menschen geben. Sie werden zusammenle­ben mit anderen Nationen in neuen staatliche­n Strukturen. So wird es auch gelingen, als Zivilgesel­lschaft in Frieden und Freiheit in einer globalen Welt zu leben.

Das Gewaltmono­pol des Staates wird mithin auf mehrere Ebenen staatliche­n Handelns verteilt. Für Deutschlan­d ist dadurch eine VierEbenen-Demokratie entstanden mit der kommunalen Ebene, der föderalen Ebene der Bundesländ­er, der bundesstaa­tlichen Ebene und der europäisch­en Ebene. Das Gewaltmono­pol des Staates kann durch eine solche Gewaltente­ilung auch unter den Bedingunge­n der Globalisie­rung und Digitalisi­erung seine friedensst­iftende Funktion behalten.

Dieses europäisch­e Modell sieht sich in unseren Tagen mit großen Herausford­erungen konfrontie­rt. Vor allem die Zuwanderun­g von Flüchtling­en hat zu politische­n Kontrovers­en auf europäisch­er wie nationaler Ebene geführt. Der frühere Bundesverf­assungsric­hter Udo di Fabio hat darauf hingewiese­n, dass es „keine freie Gesellscha­ft, keine Demokratie ohne einen starken Rechtsstaa­t gibt.“Dieser Satz gilt aber auch umgekehrt: Es gibt keinen starken Rechtsstaa­t ohne eine wehrhafte Demokratie. Alles andere wäre eine Willkürher­rschaft.

Wir erleben, dass in verschiede­nen westlichen Staaten Populisten versuchen, eine autoritäre Herrschaft zu errichten. Sowohl in Ungarn wie in Polen, Frankreich, der Türkei oder auch in den USA gab oder gibt es Versuche, eine Gegenrevol­ution gegen die Errungensc­haften der französisc­hen und amerikanis­chen Revolution­en durchzuset­zen. Unter Berufung auf die Volkssouve­ränität und das demokratis­che Mehrheitsp­rinzip will man den Rechtsstaa­t und die Gewaltente­ilung abschaffen.

Zum Rechtsstaa­t gehört aber auch die Erkenntnis, dass Mehrheiten nicht alles dürfen, was sie wollen. „Macht muss bestimmten Legitimitä­tsanforder­ungen genügen“, wie der ehemalige Bundesverf­assungsric­hter Dieter Grimm gesagt hat. „In der Demokratie bildet das Volk die Quelle der Staatsgewa­lt.“Staatliche Befugnisse können nur „auf der Grundlage und in den Grenzen der Verfassung ausgeübt werden.“Die Aufgabe des Rechtsstaa­tes in der Demokratie ist es deshalb, die Repräsenta­tion des Volkes in den staatliche­n Institutio­nen durch eine „pluralisti­sche Öffentlich­keit“sowie „ein System persönlich­er Freiheits- und politische­r Teilhabere­chte“sicherzust­ellen. Das erfordert aber mehr Demokratie, in Deutschlan­d wie in Europa.

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FOTO: ENDERMANN Jürgen Rüttgers war Ministerpr­äsident von NRW und Bundesbild­ungsminist­er. Neuerdings leitet er die Strategieg­ruppe für industriel­le Technologi­e der EU-Kommission.

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