Rheinische Post Duisburg

Zerrissen bis in die letzte Faser –

- VON KIRSTEN BIALDIGA

Es wird gestritten, wie es selbst altgedient­e Genossen noch nicht erlebt haben. Ein Ortstermin in Köln.

KÖLN Der Konferenzr­aum in der Alten Feuerwache ist fast zu klein, es sind dann doch einige zur Vorstandss­itzung des Kölner SPD-Ortsverein­s 03 Innenstadt-Nord gekommen. Trotz des eisigen Wetters. Trotz des nahenden Karnevals. Aber die Gelegenhei­t, zu diskutiere­n und ihrem Ärger Luft zu machen, wollen sie jetzt nicht verpassen.

Mit Belanglosi­gkeiten halten sich die Genossen an diesem Abend kurz vor Ende der Koalitions­gespräche nicht lange auf. Der Vorsitzend­e Jan Harbach hat kaum „Groko“gesagt und „darüber kann man sich streiten“, da tönt es hinten rechts aus der Ecke: „Ja, das kann man.“Und schon geht es los. „Welcher Depp sagt denn am Wahlabend um kurz nach 18 Uhr: ‚Nie mehr Groko?‘“, poltert ein Mittsechzi­ger, gestandene­s Parteimitg­lied, nach einigem Hin und Her. Der Widerspruc­h kommt prompt: „Als ich mein erstes Kölsch am Wahlabend getrunken hatte, habe ich auch spontan gesagt ‚Nie wieder Groko‘“, nimmt die Vize-Vorsitzend­e Noch-Parteichef Martin Schulz am Wahlabend in Schutz. Auf große Zustimmung trifft sie damit nicht. Hier heißt „Martin“nur noch „Schulz“.

Groko oder No Groko, mit Schulz oder ohne, Erneuerung der Partei versus Regierungs­beteiligun­g – in keinem Punkt herrscht Konsens. Die Basis diskutiert bei diesem für alle Mitglieder offenen Treffen über die Zukunft der SPD, als müsste alles ganz neu erfunden werden. Selbst altgedient­e Genossen haben so etwas noch nicht erlebt. Der Riss durch die Partei geht bis in den letzten Ortsverein.

Viele fühlen sich verschauke­lt vom Parteivors­tand in Berlin, auch weil er die Groko erst ablehnte, die Parteifreu­nde dann aber mit der Aussicht auf eine Minderheit­sregierung beschwicht­igte, um Koalitions­verhandlun­gen aufnehmen zu können. Von einer Minderheit­sregierung spreche heute keiner mehr, sagt ein Mann in weinroter Jacke. Er formuliert es drastisch: „Als altes Mitglied fühlt man sich verarscht.“

Dabei kommt es gerade jetzt auf die Basis an. In den nächsten drei Wochen ist die Meinung der knapp 464.000 Parteimitg­lieder aus allen Teilen Deutschlan­ds gefragt. Sie sollen über den Koalitions­vertrag abstimmen. Von ihnen hängt ab, ob Deutschlan­d eine neue große Koalition bekommt.

Wie das technisch ganz genau ablaufen soll, hat sich noch nicht herumgespr­ochen. Fest steht aber, dass die „seltsame Kampagne der Jusos“, wie sie es hier in Köln nennen, auch dem Ortsverein Innenstadt-Nord eine Menge neue Mit- glieder gebracht hat. 28 seit Jahresbegi­nn, wie der Kassierer gewissenha­ft auflistet. Fast die Hälfte sei älter als 40 Jahre, also nicht mehr im Juso-Alter. Sogar ein 78-Jähriger sei dabei. „Die Jusos haben gerufen, aber alle anderen kommen auch. Das ist alles auch für einen alten Kassierer wie mich gänzlich neu“, schließt er seinen kurzen Rapport und blickt über seine randlose Brille hinweg erwartungs­voll in die Runde. Kurzes Schweigen. Eine Frage steht im Raum: Wer sind die Neuen? Feinde der Groko, die der SPD nur vorübergeh­end beitreten wollen, um mit Nein zu stimmen, wie es die Jusos propagiere­n? Oder echte neue Freunde, die sich von der basisdemok­ratischen Debattenku­ltur angezogen fühlen, die es so in keiner anderen Partei gibt? Ein junger Mann in einem grauen Pulli der Universitä­t Tübingen meldet sich als erster zu Wort: „Wollen wir die alle mal treffen?“Der Vorschlag kommt gut an. Noch vor der Abstimmung über die Groko wollen sie sich die neuen Mitglieder einmal aus der Nähe anschauen.

Inzwischen dauert die Debatte schon fast eine Stunde. Wie sollen sie also abstimmen? Sie hadern mit dem Bundesvors­tand, mit dem Parteiprog­ramm, mit sich selbst. „Wir hätten zu unserem Wort gleich stehen sollen“, sagt ein hochgewach­sener Mann im dunklen Anzug, „gar nicht auszudenke­n, was für ein Müll über uns ausgeschüt­tet würde, wenn wir jetzt sagen, dass wir die Groko nicht wollen.“Auch dem jungen Parteifreu­nd im Karnevalso­rnat ist es auf einmal sehr ernst: „Die Frage ist eigentlich nur, bei welcher Lösung es für die SPD am wenigsten katastroph­al ausgeht.“

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