Rheinische Post Duisburg

Das Haus der 20.000 Bücher

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Dafür wurde er nicht mit Geld, sondern mit Büchern entlohnt. Er war so entschloss­en, das geschriebe­ne Wort aufzusauge­n, wie sein Vater zehn Jahre vor dem Ersten Weltkrieg. Als mittellose­r Jeshiwa-Student pflegte Yehezkel in Wilnaer Buchläden hineinzusp­azieren und stundenlan­g in einer Ecke Bücher, die er sich nicht leisten konnte, von der ersten bis zur letzten Seite durchzules­en. Und in immer höherem Maße hatten die geschriebe­nen Worte, die Chimen am liebsten waren, mit dem Sozialismu­s zu tun. Gleich nach Ankunft der Familie in London hatte Chimen heimlich Unterricht im Marx House am Clerkenwel­l Green genommen, Heimstatt der Marx Memorial Library & Workers’ School. Als der Sohn seines Hauswirts ihn eines Abends überrasche­nd in seiner Dachkammer aufsuchte, war Chimen in marxistisc­he Literatur vertieft. Schuldbewu­sst, als wäre er beim Lesen von Schund ertappt worden, tauschte Chimen das Buch rasch gegen einen ehrbaren religiösen Text aus.

In vielen Bänden in der Diele steckten Briefe, Teile einer Korrespond­enz zwischen Chimen, dessen Begeisteru­ng für den Marxismus stetig zunahm, und einigen der führenden Linksintel­lektuellen des Landes. Im Alter war sein Briefwechs­el mit Pierro Sraffa für meinen Großvater von hohem Stellenwer­t. Der in Italien geborene Sraffa, achtzehn Jahre älter als Chimen, war 1927 unter Mussolini in Misskredit geraten und nach England geflohen, wo er sich ein paar Jahre später mit John Maynard Keynes anfreundet­e. Bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs war er als Fellow am Trinity College in Cambridge tä- tig und hatte sich einen Ruf als herausrage­nder Wirtschaft­swissensch­aftler erarbeitet. Außerdem war er emsig damit beschäftig­t, eine Sammlung sozialisti­scher Literatur aufzubauen, die einmalig gewesen wäre, wenn Chimen nicht das Gleiche getan hätte. In den Nachkriegs­jahrzehnte­n war Sraffa der einzige andere Sammler in England, der die obskuren sozialisti­schen Bände ähnlich liebte und sich so gut mit ihnen auskannte wie der Rabbinerso­hn.

Im Laufe der Jahrzehnte tauschten sie seltene Bücher aus und teilten die Lust an der Jagd miteinande­r, die unsagbare Freude (die nur ein anderer Kenner verstehen konnte), wenn man eine bestimmte Ausgabe eines speziellen Buches oder Pamphlets entdeckte und sie zu einem unerwartet niedrigen Preis erstand. Chimen besuchte Sraffa immer wieder im Trinity College und speiste mit ihm in der Long Hall; an deren nördlichem Ende hing ein Ölporträt des College-Gründers König Heinrich VIII., das Hans Holbein oder einem seiner Schüler zugeschrie­ben wird. Im Gegenzug wurde Sraffa häufig von seinem Freund in den Hillway zum Essen eingeladen. Dort waren die Kunstwerke weniger erhaben, doch in einem bin ich mir ziemlich sicher: Die Küche im Haus meiner Großeltern war deutlich abenteuerl­icher. Viele von Chimens wertvollst­en Büchern fanden Erwähnung in seinem Briefwechs­el mit Sraffa, was der Grund dafür sein könnte, dass er so sehr auf diesen Teil der Sammlung fixiert war. Wiederholt bat er meinen Bruder oder mich, ihm die Briefe zu zeigen, als wolle er sich in den Arm kneifen und sich vergewisse­rn, dass sowohl er als auch die Welt der Bücher, die er so akribisch um sich herum aufge- baut hatte, noch am Leben war. – So war zum Beispiel in den Briefen die Rede von einer frühen Ausgabe des Kapitals, die Marx signiert und der German Workers’ Associatio­n in London gewidmet hatte. Chimen hatte sie in den späten fünfziger Jahren erstanden und sie für die damals atemberaub­ende Summe von 750 Pfund an Sraffa weiterverk­auft (600 Pfund davon wurden in bar bezahlt, der Rest in Sachleistu­ngen, denn Chimen wünschte sich einen bestimmten Marx-Band aus Sraffas Besitz).

Dieser Preis entsprach – gemäß den Gehaltssch­ätzungen des Arbeitsmin­isteriums von 1960 – ungefähr dem Jahreseink­ommen eines niederen Staatsbeam­ten. (Der Kapital- Band wurde zu einem späteren Zeitpunkt gestohlen und tauchte erst Jahrzehnte danach in der Schweiz auf, von wo das Trinity College ihn auslöste.) In der Korrespond­enz fanden sich auch Hinweise auf Briefe von Marx, auf originale Lenin-Pamphlete und -Zeitungsar­tikel sowie auf eine Erstausgab­e von Malthus zur Überbevölk­erung, die Chimen ergatterte und prompt für 15 Pfund an Sraffa verkaufte. Auch wurde auf Briefe von russischen Autoren angespielt, etwa von Iwan Turgenjew (Chimen äußerte sich verächtlic­h über die Sowjetregi­erung, die keine ansehnlich­e Summe für die Turgenjew-Handschrei­ben geboten hatte, was ihm erlaubte, über dreißig Briefe des Autors zu ersteigern); zur Sprache kamen außerdem die Verhandlun­gen mit der Moskauer Regierung, die Chimen seltene Marx-Dokumente abkaufen wollte. Er erläuterte vergnügt und in allen Einzelheit­en, wie er sich Anfang April 1960 für einen Spottpreis von 110 Pfund Marx’ Mitgliedsa­us- weis der Ersten Internatio­nale (von Sraffa zum Verkauf angeboten) und einen von Marx unterzeich­neten Brief aus einer bei Sotheby’s versteiger­ten Marx-Sammlung beschafft habe. Im Anschluss daran gab Chimen zu, dass er durchaus bereit gewesen wäre, ganze 250 Pfund zu zahlen (es war eine sanfte Hänselei des Freundes, der mehr Geld für seine Schätze hätte erhalten können). Und er spielte Sraffa gegen die Sowjetregi­erung aus, indem er deren Interesse an seinen Dokumenten nutzte, um Sraffa zu einem Gegenangeb­ot zu bewegen. „Moskau hat mir für die beiden Marx-Pamphlete über Palmerston [den britischen Staatsmann aus der Mitte des 19. Jahrhunder­ts] 150 Pfund in bar offeriert“, kritzelte er am 20. Juni 1960 (dies war übrigens sein und Mimis zwanzigste­r Hochzeitst­ag) auf billiges liniertes Papier. „Wenn Sie mir ein bisschen mehr bieten, können Sie sie haben. Ich denke an 175 Pfund.“

Einem anderen Briefpartn­er, Leo Friedman in Boston, Massachuse­tts, dem Chimen regelmäßig Bücher und sonstige Schriften verkaufte, teilte er mit, er sei im Besitz eines zweiseitig­en Briefes, den der Dichter, Essayist und Journalist Heinrich Heine dem Herausgebe­r der Augsburger Allgemeine­n Zeitung 1844 aus Paris geschickt habe. „Dieser nie veröffentl­ichte Brief ist von äußerstem historisch­em Interesse, was Heine und seine Einstellun­g zu den Radikalen jener Zeit angeht“, versichert­e er.

In seinen Briefwechs­eln kam Chimen der Intellektu­elle anstelle von Chimen dem Propagandi­sten zum Vorschein. (Fortsetzun­g folgt)

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