Wer sind meine Nachbarn?
Immer wieder hört man von Anonymität in der Großstadt. Ich kannte nicht einmal die Menschen, die mit mir unter einem Dach wohnen – bis ich einfach an ihren Türen geklingelt habe.
nen.“Trotzdem glaubt Anja, dass der Trend auch wieder in eine andere Richtung gehen wird: „Viele Wohnanlagen werden ja im Hinblick auf Nachbarschaft gebaut, es gibt dann zum Beispiel einen gemeinsamen Hof oder ähnliches.“
Zurück im Treppenhaus, erinnere ich mich, wie es damals war: Mit meinen Eltern wohnte ich in einer Sackgasse. Ich wusste genau, wer in welchem Haus wohnt. Als ich einmal operiert wurde und mit meiner Mutter aus dem Krankenhaus kam, wurde sie von einer Nachbarin mit einer Tasse Kaffee begrüßt – „es war sicher eine lange Nacht“. Ein anderes Mal hat mich eine Nachbarin zum Bahnhof gefahren. Bei größeren Festen und runden Geburtstagen kamen alle zusammen. Nachbarschaft war neben Kollegen, Freunden und Familie eine weitere Gemeinschaft. In der Großstadt dagegen sind Nachbarn Menschen, die nebeneinander wohnen und oft dennoch nichts voneinander wissen. Manche, weil sie es nicht wollen, weil sie die Anonymität suchen und schätzen. Aber was ist mit den anderen?
Silvia habe ich das erste Mal gesehen, als sie vor meiner Tür stand. Sie war gerade eingezogen und suchte ihren Stromkasten. Seitdem grüßen wir uns, wenn wir uns im Treppenhaus begegnen. Länger unterhalten haben wir uns nie. Nun stehe ich vor ihrer Tür, zögere einen Moment und drücke dann auf die Klingel.
Auf der anderen Seite höre ich Schritte, Schlüssel drehen sich im Schloss, dann öffnet sich die Tür: Silvia Wilke, groß, mittellanges blondes Haar ist gerade auf dem Sprung. „Ich muss gleich zur Arbeit, aber etwas Zeit habe ich noch“, sagt sie und lässt mich hinein. „Setz dich doch.“Zur Arbeit, damit meint Silvia ihren Nebenjob in einem Supermarkt. Die 22-Jährige studiert in Düsseldorf Englisch und Modernes Japan.
Fast hätte ich es mir denken können. Der hintere Teil ihrer Wohnung erinnert an einen Comicbuchladen – fein säuberlich sortiert reihen sich dort Sammelfiguren und ganze Mangaheft-Reihen, auf Deutsch und Japanisch. Silvia zieht eines der Bücher hervor: „Man liest sie von hinten nach vorne.“Ich staune angesichts des Zeichen-Wirrwarrs. Silvia kann sie alle lesen, „naja, bis auf die Kanji-Zeichen, aber davon kennen nicht einmal die Japaner alle“, erzählt sie.
Längst ist Anonymität in Großstädten zu einem geflügelten Wort geworden, Schreckensmeldungen, dass Personen tagelang tot in der Wohnung liegen, ohne dass es jemand bemerkt hat, geistern umher. Bei uns grüßt man sich freundlich, hält einander die Türen auf, hilft sich bei Kleinigkeiten. Ansonsten aber