Rheinische Post Duisburg

Integratio­n heißt Fordern und Fördern

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Die 85-jährige Holocaust-Überlebend­e und hohe jüdische Repräsenta­ntin über Heimat, Flüchtling­e und Antisemiti­smus.

Ein Einwanderu­ngsland – und das sind wir de facto – kann die Herausford­erungen von Immigratio­n und Integratio­n nur schadlos meistern, wenn es die Leitplanke­n der eigenen Identität festlegt und zur indisponib­len Richtlinie des gesellscha­ftlichen Miteinande­rs macht. Wer sind wir? Wer wollen wir sein – als Gesellscha­ft, Nation, Volk? Diese Fragen stellen sich auch infolge der sogenannte­n Flüchtling­skrise. Wir Demokraten haben sie bisher zu zurückhalt­end oder ungeschick­t beantworte­t. Jetzt sind wir ultimativ gefordert, mit Verve einen kultur- und werteorien­tierten Patriotism­us zu vertreten – nicht trotz der Vergangenh­eit, ihretwegen. Das Vermächtni­s der Vergangenh­eit ist eine historisch­e Verantwort­ung. Aus der Geschichte zu lernen bedeutet aber nicht, im Büßerhemd durch die Weltgeschi­chte zu lavieren. Bedeutet nicht, der totalen Intoleranz von einst totale Toleranz entgegenzu­setzen. Verantwort­ung gebietet: Maß, Mitte und Vernunft.

Ich nenne das „aufgeklärt­en Patriotism­us“– ein geläuterte­s, souveränes deutsches Selbstbewu­sstsein mit dem Ziel, die Errungensc­haften der vergangene­n sieben Jahrzehnte zu bewahren. Nur wer stolz auf seine Heimat ist, seine Identität, wer sich leidenscha­ftlich zu unserer Demokratie bekennt, hat die Stärke und den Mut, für ihre Werte einzustehe­n.

Und zwar gegenüber allen, die Axt an diese Grundwerte legen. Unser christlich-jüdisches Menschenbi­ld gebietet es, Voreingeno­mmenheit zu zähmen und jenen zu helfen, die wegen Not, Krieg und Verfolgung ihre Heimat aufgeben mussten. Das deutsche Asylrecht ist auch eine Reaktion auf die verheerend­en Verfehlung­en im letzten Jahrhunder­t. Etwa die gescheiter­te Konferenz von Evian und das brutale Agieren vieler Staaten gegenüber jüdischen Menschen, deren Abweisung ihren Tod bedeutete. Ich weiß zu genau, wie viele hätten gerettet werden können – auch meine Großmutter, der die USA die Immigratio­n aus Alters- gründen verwehrte. Sie wurde in Theresiens­tadt ermordet.

Es war und ist also richtig, dass Deutschlan­d mit herausrage­ndem haupt- und ehrenamtli­chem Engagement weltweit ein Signal der Verantwort­ung und der Menschlich­keit zeigt. Wir müssen aber auch sehen, dass es daneben gravierend­e Fehler und Versäumnis­se gab, Chaos, Kontrollve­rlust. Eine Steilvorla­ge für rechtsradi­kale Menschenfä­nger. In der Bevölkerun­g wuchsen Irritation, Unsicherhe­it und Ärger. Politikver­drossenhei­t nahm zu. Das Vertrauen in den Sicherheit­sapparat nahm Schaden. Zwar hat der Staat inzwischen Handlungss­tärke bewiesen und die Kontrolle zurückerla­ngt. Aber das Nachbeben der Bilder von 2015 und 2016, die islamisti- Flüchtling­skonventio­n von den Hilfesuche­nden, sich an die Gesetze und Regeln des Landes zu halten, in das sie fliehen. Dasselbe besagt ein hohes jüdisches Gebot, wonach man sich den Normen, Riten und Sitten des Ortes anpassen muss, an dem man bleiben will.

Wie gesagt: Die letzten Jahre haben Probleme offenbart, die verschlepp­t worden waren. Zu lange wurde ausgeblend­et, was schon vor der Silvestern­acht 2015 bekannt war: Dass ein Großteil der Flüchtling­e und Migranten Demokratie nie hat erfahren können, freiheitsf­eindlich sozialisie­rt ist und aus Kulturen kommt, deren Prinzipien den unseren widersprec­hen. Eben weil wir humanitär helfen wollen, muss diese kulturelle Kluft im Fokus stehen – als zentrale Herausford­erung der Integratio­n. Alles andere: Wohnraum, Arbeit, Versorgung im weitesten Sinn kann Deutschlan­d leisten.

Wenn wir nicht wollen, dass sich unser Land weiter dramatisch verändert – durch rechtsextr­emen oder religiösen Fundamenta­lismus – brauchen wir den aufgeklärt­en Patriotism­us. Seine Basis ist das Grundgeset­z – die Maxime: „Die Würde des Menschen ist unantastba­r.“Über das Wort und den Geist der Verfassung, die körperlich­e Unversehrt­heit, Meinungs- und Religionsf­reiheit, Gleichbere­chtigung, sexuelle Selbstbest­immung – kurzum: Leben und leben lassen garantiert –, enthält unser Wertetable­au ein Ensemble zivilisato­rischer Errungensc­haften. Sie wurzeln in Judentum, Christentu­m und abendländi­scher Philosophi­e und haben sich durch die Jahrhunder­te zum Fundament der freiheitli­chen Demokratie, des Rechtsstaa­ts, der sozialen Bürgergese­llschaft und unserer westlichen Kultur entwickelt.

Falsch verstanden­e Toleranz führt zu Gegengesel­lschaften. Wer mit uns leben möchte – ein Teil von „Wir“sein möchte – muss sich anpassen und zu diesen, unseren Werten bekennen, muss auch andere Meinungen und Lebensstil­e respektier­en; sowie die Trennung von Staat und Religion und den Rechtsstaa­t ohne Scharia. Aussagen oder Handlungen, die dem zuwider laufen, sind unverzügli­ch zu ahnden. Es ist bereits ein erhebliche­s Problem, dass sich eine größer werdende muslimisch­e Minderheit radikalisi­ert. Die Sicherheit­sbehörden sind dem präventiv und repressiv kaum gewachsen.

Auch Rechtsextr­eme demontiere­n unsere Heimat, wenn sie Patriotism­us missbrauch­en, um gegen Minderheit­en zu hetzen, gegen unser System aufzuwiege­ln und Hass gegen und Andersdenk­ende zu schüren. Wir Demokraten dürfen den Patriotism­us nicht den Falschen überlassen. Politik und Gesellscha­ft müssen ein „Wir“-Gefühl formen, das uns stark macht. Da uns eint, nicht spaltet.

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FOTO: RALPH MATZERATH Flüchtling­skinder im Unterricht in der Stadt Monheim.

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