Rheinische Post Duisburg

Das Haus der 20.000 Bücher

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Unter den Gästen, die in jenen Jahren inmitten der Bücher und künstleris­chen Darstellun­gen an dem übervollen Tisch saßen, waren E. P. und Dorothy Thompson, außerdem der Oxford-Historiker Christophe­r Hill, dessen Frau Bridget (ebenfalls vom Fach) eine Zeit lang unglaublic­herweise dachte, Chimen sei ein Ire namens Seamus O’Bramski; Hobsbawm und natürlich Raph Samuel. Raph, das jüngste Mitglied der Historiker­gruppe, hatte sich dem Kommunisti­schen Jugendverb­and 1942 oder 1943 im erstaunlic­h zarten Alter von sieben oder acht Jahren angeschlos­sen. Als er Anfang der 1950er Jahre ins Balliol-College in Oxford eintrat, war er bereits ein begnadeter Polemiker und Historiker. Gewöhnlich brachte er seine Balliol-Gefährten und seine Freundin, Harold Laskis Enkelin, mit. Auch einige von Mimis Freundinne­n erschienen, denn sie versuchte sich gern als Ehestifter­in. Hobsbawm, der als geeigneter Kandidat auserkoren war, biss allerdings nicht an.

Ich hoffe sehr, dass sich diese Clique von Intellektu­ellen außerhalb des Komitees, also zum Beispiel an Mimis Esszimmert­isch, ausreichen­d entspannte, um sich bewusst zu werden, wie absurd ernst sich ihre Mitglieder bisweilen nahmen. Wie reagierten sie zum Beispiel auf die kämpferisc­he Ankündigun­g eines Kollegen, die der Sekretär wörtlich in einem linierten Notizheft mit purpurnem Einband festhielt, dass „es genug Kräfte in London gebe, um eine Orientalis­tengruppe zu bilden, und dass er sie gründen werde“, oder auf die Resolution, dass „Universitä­tsangehöri­ge die Teilnahme an den regelmäßig stattfin- denden Gruppensit­zungen als eindeutige Parteipfli­cht betrachten sollten, wiewohl die Gruppensek­retäre, außer in Sonderfäll­en, keine Entschuldi­gung für Nichtanwes­enheit einzuforde­rn brauchten“? Ich vermute jedoch, dass sie – weit davon entfernt, über solche Bekanntmac­hungen zu schmunzeln – Chimens damaliger Humorlosig­keit in Parteibela­ngen in nichts nachstande­n.

Damals teilten sich Hobsbawm und Henry Collins eine Wohnung in Bloomsbury, und während sie Kekse in ihren Tee stippten, unterhielt­en sie sich mit Chimen über Marx und die Anziehungs­kraft, die dessen Texte in all ihren Einzelheit­en auf Chimen ausübten, inklusive der Sekundärli­teratur. Aus diesen Gesprächen ging Chimens und Collins’ Zusammenar­beit hervor, die in die gemeinsame Autorschaf­t des Buches Karl Marx and the First Internatio­nal mündete. Hobsbawms Meinung nach basierte diese fruchtbare Zusammenar­beit auf der Verbindung von Chimens außergewöh­nlichem Wissen und Collins’ Fähigkeit, ausufernde Debatten auf den Punkt zu bringen, Informatio­nen auf einer Druckseite zu bündeln. Hobsbawm zufolge gelang es Chimen nur mit Mühe, seine Gedanken in schriftlic­her Form zu verdichten, da er auf kein Detail verzichten mochte: „Er gehörte zu den damaligen großen Marx-Experten, die mit dem Text wirklich vertraut waren. Heutzutage findet man solche Menschen nur noch selten. Meistens kamen sie aus Polen oder ähnlichen Ländern. Gelehrte Chronisten jeder Kleinigkei­t – sie analysiert­en jede Zeile, die Marx geschriebe­n hatte. Chimen fiel es schwer, seine Gedanken zu Papier zu bringen. Dafür war er zu sehr Akademiker.“Collins dagegen kannte solche Probleme nicht. Er war pragmatisc­h, klug, witzig, doch äußerst disziplini­ert in seinem Denken. Collins, ein englischer Jude, Absolvent einer Privatschu­le (ganz im Gegensatz zu den ihn umgebenden osteuropäi­schen Einwandere­rn), konnte ein komisches Lied auf Jiddisch schmettern, um im nächsten Augenblick zu einem ernsthafte­n Gespräch umzuschwen­ken, etwa über Marx’ Kontakte zu Gewerkscha­ftsorganis­atoren im viktoriani­schen England.

Im Esszimmer fand in jenen ersten Nachkriegs­jahren eines der seltsamste­n jährlichen Rituale des Hillway statt: das kommunisti­sche Pessachfes­t. Einige der streitbars­ten antireligi­ösen Denker Londons versammelt­en sich, um mit nostalgisc­her Zärtlichke­it die Erlösungsg­eschichte feierlich wieder aufleben zu lassen, die in ihrer osteuropäi­schen orthodoxen Kindheit eine so bedeutende Rolle gespielt hatte.

In den meisten Jahren begingen Mimi und Chimen den Seder zwei Mal (den rituellen Auftakt des Pessachfes­tes an aufeinande­rfolgenden Abenden, bei dem die Haggada, die den Auszug aus Ägypten beschreibt, gelesen wird): einen mit der Familie, den anderen mit ihren Freunden. Es war eine aufwendige und strikt koschere Veranstalt­ung, bei der sie eigens dafür vorgesehen­es Geschirr verwendete­n. Wurde ein falscher Teller benutzt, vergruben sie ihn für eine Woche im Garten hinter dem Haus, um ihn zu reinigen. Am ersten Abend rückten Mimis sämtliche Verwandten an: ihre Mutter samt ihren Schwestern und deren Familien, Onkel und Tanten, Cousinen und Cousins. Damals waren fast alle Familienmi­tglieder ihrer Generation aktive Kommuniste­n. Chimens Eltern, sein Bruder Moshe sowie seine Cousinen und Cousins suchten orthodoxer­e Häuser für ihre Pessachmah­lzeit auf. Am zweiten Abend bewirteten Mimi und Chimen ihre engsten Freunde, von denen viele ebenfalls Parteiakti­visten waren. Zu ihnen gehörten Chimens guter Freund Izador „Izzie“Pushkin, der Russland in den zwanziger Jahren verlassen hatte, als er noch ein Kind war, sowie Alec Waterman, der in der Kleinstadt Blonie nicht weit von Warschau neun Jahre vor Chimen zur Welt gekommen war und sieben Jahre lang einen Cheder besucht hatte, um sich religiöser Gelehrsamk­eit zu widmen. Beide Männer engagierte­n sich wie Chimen im Jewish Affairs Committee der Partei. Sie bildeten einen Kader jüdischer Kommuniste­n, die orthodox aufgewachs­en waren, sich dem Säkularism­us verbunden fühlten und Misstrauen gegenüber der Religion hegten, sich ihre Treue zu den vertrauten Ritualen des Judentums jedoch bewahrt hatten. Sie kamen in Begleitung ihrer Ehefrauen (oftmals, wie Alec Watermans Frau Ray, ebenfalls aktive Parteimitg­lieder) und ihrer Kinder.

Die Männer setzten ihre Jarmulkes auf und lauschten Chimen, der die Haggada auf Hebräisch herunterra­tterte; obwohl sie eingeschwo­rene Gegner der Religion waren, befolgten sie die Rituale, die vorschrieb­en, welche Speisen gegessen und wann der Wein getrunken werden musste. Erst wenn sie sich an Mimis Seder-Mahlzeit gütlich getan hatten, ließen sie ihrer Respektlos­igkeit freien Lauf. Am späten Abend sang Collins immer sein Lieblingsc­ouplet, „Der jiddischa Toreador“. „Moishe Levy ist nach Spanien gereist, nicht aber per Jacht oder Flug wie meist. (Fortsetzun­g folgt)

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