Rheinische Post Duisburg

Toronto feiert einen Polizisten

- VON JÖRG MICHEL

Ein Amokfahrer fährt mit einem Lieferwage­n in eine Menschenme­nge und tötet mindestens zehn Menschen. Über das Motiv des Täters wird noch gerätselt. Ein besonnener Polizist begeistert das Land.

TORONTO Die kanadische Millionenm­etropole Toronto gilt als eine entspannte, weltoffene und liberale Stadt. Die Bewohner erfreuen sich einer hohen Lebensqual­ität, guter Jobs und einer multikultu­rellen Szene. Auch die Kriminalit­ät ist relativ gering: Im Vergleich zu anderen Großstädte­n in Nordamerik­a gibt es in Toronto weniger Delikte, weniger Verbrechen, weniger Einbrüche.

Doch nun ist vielen Bewohnern das Gefühl der Sicherheit abhandenge­kommen. Am Montag kam es in einem belebten Geschäftsv­iertel im Norden Torontos zu einem beispiello­sen Angriff auf das friedliche Selbstvers­tändnis der Stadt, bei dem mindestens zehn Menschen starben und 15 zum Teil lebensgefä­hrlich verletzt wurden.

Ein 25-jähriger Student hatte mitten am Tag mit einem gemieteten Lieferwage­n offenbar wahllos Passanten überfahren und ein Blutbad angerichte­t. Der mutmaßlich­e Täter fuhr per Zickzack über einen Kilometer lang, bevor er von der Polizei gestoppt und verhaftet werden konnte. Der Bürgermeis­ter von Toronto, John Tory, sprach von einer „schlimmen Tragödie“für die ganze Stadt.

Die Amokfahrt ereignete sich im Bezirk North York etwa eine halbe Stunde vom Stadtzentr­um entfernt auf der Yonge Street, der bekanntest­en Einkaufs- und Geschäftsm­eile von Toronto. Der Fahrer war dort am frühen Nachmittag mit über 60 Stundenkil­ometern auf einen Bürgerstei­g gefahren.

Der Augenzeuge Alex Shaker beschrieb den dramatisch­en Tathergang im kanadische­n Fernsehen: „Dieser Typ hat einen Passanten nach dem anderen einfach überrollt.“Er habe einen Kinderwage­n gesehen, wie er durch die Luft geflogen sei. Auch Körper seien von dem Aufprall in die Luft geschleude­rt worden. „Er hat die Leben so vieler Menschen zerstört. Alles, was ihm in den Weg kam.“

Der Polizeiche­f von Toronto, Mark Saunders, sagte, es müsse von einer vorsätzlic­hen Tat ausgegange­n werden. Das Motiv des Fahrers ist unklar. Vieles spricht dafür, dass es sich um einen verwirrten Einzeltäte­r gehandelt hat. Die Polizei wollte aber auch terroristi­sche Motive nicht ganz ausschließ­en. Saunders sagte, man ermittle in alle Richtun- gen, weitere Verdächtig­e gebe es nicht.

Der mutmaßlich­e Täter Alek M. hatte laut Polizei offenbar als Einzelgäng­er gehandelt und war den Behörden zuvor nicht aufgefalle­n. Es gibt bislang auch keinerlei Hinweise auf Verbindung­en zu Terrororga­nisationen. Alek M. lebte in Richmond Hill, einem Vorort im Norden der Stadt, frühere Mitschüler beschriebe­n ihn als schüchtern, zurückgezo­gen und mental instabil. Nach allem, was man bisher weiß, hatte Alek M. offenbar keine besonderen religiösen oder politische­n Überzeugun­gen. Nach Recherchen kanadische­r Medien hatte er als Jugendlich­er Kurse für Schüler mit Lernschwie­rigkeiten besucht. Er litt unter nervösen Zuckungen, geriet leicht in Panik und galt eigentlich als harmlos und kaum fähig, selbst ein Auto zu steuern.

Bei seinem ersten Auftritt vor Gericht am Dienstag erschien Alek M. in einen weißen Overall gekleidet und mit rasiertem Kopf. Als die Anklage verlesen wurde, schaute er regungslos auf den Boden. Die Staatsanwä­lte werfen ihm zehnfachen Mord und versuchten Mord vor. Der Vater des mutmaßlich­en Täters war ebenfalls zugegen und schluchzte auf dem Weg in den Gerichtssa­al.

Zu einer bemerkensw­erten Szene war es bei der Festnahme gekommen. In einem Video eines Augenzeuge­n ist zu sehen, wie Alek M. mit einem Gegenstand in Richtung eines Polizisten zeigte, drohte und dabei „Töte mich!“und „Schieß’ mir in den Kopf!“rief, fast als bettelte er darum, getötet zu werden. Doch der Polizist reagierte besonnen und nahm Alek M. beherzt fest. In Kanada wird er dafür gefeiert.

„Heute Nacht sind die Herzen und Gedanken der ganzen Nation mit den Familien und Freunden der Opfer“, sagte Premiermin­ister Justin Trudeau sichtlich bewegt und appelliert­e: „Wir dürfen nicht jeden Tag in Angst leben.“Bürgermeis­ter Tory betonte, Toronto bleibe trotzdem eine tolerante und weltoffene Stadt.

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FOTO: DPA Die Attacke ereignete sich auf der Yonge Street, der bekanntest­en Einkaufs- und Geschäftsm­eile Torontos. Mindestens zehn Menschen starben.

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