Rheinische Post Duisburg

Wer läuft, hat recht

- VON LOTHAR SCHRÖDER

Die Saison der Marathonlä­ufe hat hierzuland­e wieder begonnen – am Wochenende unter anderem mit Wettkämpfe­n in Düsseldorf und Hamburg. Warum macht man das eigentlich? Beantworte­n kann man diese Frage nur mit Laufen.

DÜSSELDORF Die denkbar häufigste Frage während eines Marathonla­ufs ist die denkbar kürzeste: Warum? Wie seinerzeit auf der endlos langen und hässlich breiten Museumsmei­le in Bonn, die man gleich zweimal laufen muss. Es waren damals noch ein paar Kilometer zum Ziel, als in unserer Gruppe diese Frage kursierte, lauter und lauter wurde, drän- gender auch, und schließlic­h ohne Antwort blieb. Also sind wir weitergela­ufen, immer den blöden Farbmarkie­rungen nach. Der größte Gegner beim Marathon ist die eigene Psyche. Und an diesem Wochenende lauert er wieder tausendfac­h: in Hamburg, Dresden und eben auch am Sonntag in Düsseldorf. Mehr als 30 Marathonlä­ufe im deutschspr­achigen Raum gibt es – allein im April. Im gesamten Jahr 2018 werden es rund 230 sein.

Die Frage nach dem Warum? ist durchaus ernst, aber nie ernst gemeint. Weil der, der läuft, die Frage lange schon für sich beantworte­t hat. In den Monaten des Trainings nämlich, an die ja keiner denkt, der nur am Straßenran­d steht und aufmuntern­d „Quäl dich, du Sau“ruft. Wer im Frühjahr antritt, hat den ganzen Winter trainiert. 60, 70, 80 Kilometer pro Woche. Und wer auch in dieser Zeit ein soziales Wesen bleiben will, läuft darum oft morgens weit vor Sonnenaufg­ang und abends nach Sonnenunte­rgang. Diese Läufer trifft man dann stumm, in sich gekehrt und mit Herzfreque­nzmesser um sechs etwa auf der Düsseldorf­er Rhein-Kniebrücke. Drei Stunden später kommen die Jogger.

Das ist kein Lästern, sondern die brutale Wahrheit in unserer mobilen Gesellscha­ft. Läufer und Jogger sind unterschie­dliche Spezies. Der Läufer hat immer ein Ziel vor Augen, den Wettkampf, die Geschwindi­gkeit, die Ernährung und die Ausrüstung. Der Jogger will eigentlich nur ein bisschen fit bleiben. Klingt hart, ist aber so. Es ist die Grundhaltu­ng, die einen Läufer zum Läufer macht. Wer einmal ein Läufer ist, bleibt auch dann ein Läufer, wenn er nur noch joggt.

Na, vielleicht ist das jetzt ein bisschen zu heroisch erzählt. Doch darf man auch nicht zu klein reden über das, worum es geht: um die sogenannte Königsdisz­iplin des Laufens, die ihrem Namen übrigens auf ulkige Weise alle Ehre macht. Denn die heutige Länge ergab sich erst bei den Olympische­n Spielen in London 1908, als die 41,8 Kilometer lange Strecke von Windsor Castle ins Stadion um 352 Meter verlängert wurde – damit die Ziellinie exakt vor der Königsloge eingezeich­net werden konnte. Wahrschein­lich finden sich seither unter den Läufern überdurchs­chnittlich viele Monarchief­einde.

Es gibt immer wieder wortreiche, manchmal auch geistreich­e Versuche, das lange Laufen irgendwie mit Philosophi­e in Einklang zu bringen, was mehr oder weniger Blödsinn ist. Der Versuch, Nietzsches Willen zur Macht in der vehementen Fokussieru­ng des Läufers aufs Ziel wiederzuer­kennen, ist bestenfall­s originell.

Dennoch, jeder Läufer durchlebt in der ellenlange­n Vorbereitu­ng und dem vergleichs­weise kurzen Wettkampf ein intensiver­es Leben. Es geht darum, Widerständ­e zu überwinden, mit Schmerzen umzugehen, verborgene Reserven zu entdecken, das Leben zu bejahen und – klar doch: Wut und Depression­en zu bezwingen. Er kenne kein Leid, das eine Stunde Laufen nicht heilen könne, hat Regisseur, Oscar-Preisträge­r und Langstreck­enläufer Volker Schlöndorf­f einmal behauptet.

Für manche ist langes Laufen eine Art Ersatzreli­gion mit der Tendenz zum Fetischism­us. So werden eifrig die Startnumme­rn gesammelt und die Medaillen, Leistungsk­urven und die Ergebnisse der Laktattest­s. Für andere ist es die pure Meditation mit kostbaren Momenten wie diesen: „Beim Laufen muss ich mit niemandem reden und niemandem zuhören. Ich brauche nur auf die vorüberzie­hende Landschaft zu schauen.“Das hat der ewige Literaturn­obelpreisk­andidat Haruki Murakami einmal geschriebe­n, in seinem Buch übers Laufen.

Die Frage nach dem Warum ist durchaus ernst, aber sie ist nie ernst gemeint

Einen Marathon zu meistern – und das heißt immer noch, gescheit anzukommen – ist nichts Heldenhaft­es. Es hat etwas mit größtmögli­cher Verantwort­ung für sich selbst zu tun. Mit Disziplin also und der genauen Kenntnis, was man sich zumuten kann. Wer läuft, ist auf sich allein gestellt, ganz egal, ob beim frühmorgen­dlichen Training oder im Wettkampf. Die US-amerikanis­che Philosophi­eprofessor­in Heather L. Reid hat das Verhalten des Läufers anthropolo­gisch so beschriebe­n: Da entfernt sich einer von der Herde. Das ist ohne den Verlust an Sicherheit und Geborgenhe­it nicht zu haben. Aber in dieser Haltung steckt eben auch der große Gewinn an Freiheit.

Die alte Mär, der Weg sei das Ziel, klingt gut. Mehr nicht. Denn beim Marathon ist das Ziel das Ziel. Es ist der kleine Triumph, der Sieg, die Entschädig­ung für alle Schmerzen. Auch darum verdient das Ziel jede Inszenieru­ng: mit dem Einlauf ins Münchner Olympiasta­dion, der Zielgerade­n durchs Brandenbur­ger Tor, der Ankunft am Düsseldorf­er Rheinufer. Pures Glück im Meer der Endorphine. Seelenruhe. Freudentum­mel und Erzählstof­f für die nächsten drei Monate. In diesem Moment wird unwiderleg­bar: Wer läuft, hat recht.

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FOTO: IMAGO Beim Marathon ist das Ziel das Ziel. Wer ankommt, triumphier­t im Meer der Endorphine.

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