Das Haus der 20.000 Bücher
Talmon, nun eindeutig im Lager der Kalter-KriegsLiberalen verortet, erläuterte seinen Lesern, dass messianische Politik „eine umfassende, absolute Lehre voraussetzt, von der man annimmt, dass sie eine verbindliche Sicht auf alle Aspekte des menschlichen Lebens und der gesellschaftlichen Existenz, darunter Religion, Ethik und die Künste, anzubieten habe“. Chimen war vermutlich nicht einverstanden mit Talmons Meinung, dass die Schuld an dieser Entwicklung allein Marx und den anderen großen sozialistischen Theoretikern des 19. Jahrhunderts anzulasten sei, doch die Grundprämisse hatte er gewiss nicht mehr bestritten: dass erschreckend viele Menschen während der politischen Konflikte, die sich durch das 20. Jahrhundert zogen, falschen Götzen geopfert worden seien. Für ihn stand „Freiheit“nun nicht mehr für den letztlichen Triumph der Arbeiterklasse, son- dern für etwas viel Individuelleres, im klassischen Sinne Liberaleres. Der Begriff bedeute, schrieb er Mitte der siebziger Jahre in einer Würdigung für Isaiah Berlin, „Freiheit von Ketten, von Inhaftierung, von Versklavung durch andere Menschen – jegliche Form von Freiheit basiert darauf“.
Mittlerweile war Chimen zügig an die Spitze der akademischen Welt aufgestiegen, und zwar in erster Linie durch die Fürsprache Berlins. Zehn Jahre zuvor, in den frühen Sechzigern, hatte man Chimen auf Berlins Empfehlung hin eingeladen, eine Reihe öffentlicher Vorlesungen in Oxford zu halten. Ebenfalls auf Berlins Betreiben wurde er 1965 zum Senior Fellow am St. Antony’s College in Oxford gewählt. Chimen wusste nur zu gut, wie viel er seinem Freund zu verdanken hatte.
Während Chimen sich also einem Alter näherte, in dem die meisten Männer das Tempo drosseln und sanft in einen wohlverdienten Ru- hestand hinübergleiten, wuchs sein Stolz auf seine akademischen Leistungen und seinen Status. Er begann bewusst als graue Eminenz aufzutreten. Ende der sechziger Jahre sah er sich selbst noch als eine Art Linken. Er lehrte als Teilzeitdozent jüdische Geschichte der Neuzeit am University College London und genoss ein enormes Prestige bei den revolutionär gesinnten Doktoranden. Er nahm ohne Krawatte und in einem zerknitterten Jackett an Sitzungen teil und hockte zusammen mit Studenten in der Cafeteria im Untergeschoss. In den späten Siebzigern ging er jedoch dazu über, einen Anzug zu tragen, und hielt, umgeben von Historikern, Philosophen und sogar Physikern, Hof im Dozentenzimmer. Sein schwarz-weißes Personalfoto zeigt ihn in einem gebügelten schwarzen Anzug und mit Krawatte; sein buschiger grauer Haarkranz erinnert an Einstein, seine Augen funkeln hinter quadratischen Brillengläsern, und er hat eine Braue leicht hochgezogen, womit er, vermute ich, reines Vergnügen ausdrückt.
Als Chimen Ende 1974 zum Goldsmid-Professor für Hebräische und Jüdische Studien am University College London berufen wurde, hatte er einen Gipfel in der akademischen Welt erklommen. Im Hintergrund, vielleicht gar ohne sein Wissen, hatten Berlin, der bekannte israelische Historiker Haim Hillel Ben-Sasson und Hobsbawm intensive Lobbyarbeit für ihn betrieben. Hobsbawm schickte sogar eine vertrauliche Mitteilung an die Universität, in der er Chimens „enorme Gelehrsamkeit“hervorhob. Politisch gesehen mochte Chimen in seinen Augen Verrat begangen haben, weil er die Revolution aufgegeben hatte, doch Hobsbawm wusste, dass mein Großvater in intellektueller Hinsicht in einer eigenen Liga spielte.
(Fortsetzung folgt)