Rheinische Post Duisburg

Vardø: Bei denen piept’s wohl

- VON ANGELA BÖHM

Wenn Seevögel Sommerurla­ub machen, bieten sie ein einzigarti­ges Schauspiel vor Norwegens nordöstlic­hster Stadt am Polarmeer. Zu beobachten ist das aus Designer-Logen eines Artenschut­z-Architekte­n.

Als Kind war Tormod Amundsen fasziniert von Dinosaurie­rn. Als er erwachsen wurde, wandte er sich deren möglichen Nachkommen zu: den Vögeln. Ihretwegen übersiedel­te er mit Sack und Pack aus dem südlichen Trondheim in eine der extremsten und abgelegens­ten Ecken der Welt. In Vardø, 424 Kilometer nördlich des Polarkreis­es, am Ufer der Barentssee, wollte er sich auf Norwegens östlichste­m Zipfel als Architekt niederlass­en. Dort hatte gerade die Hälfte der Einwohner den Ort verlassen. Seine Familie hielt ihn für verrückt und glaubte, er habe nun selber einen Vogel. „Es war das schlimmste Kaff Norwegens“, lacht Amundsen. „Aber auch das fasziniere­ndste.“

Mit Extremen kennt man sich an diesem ungewöhnli­chen Ort aus. 70 Grad Nord, 31 Grad Ost lauten die Koordinate­n. Soweit nördlich wie Alaska, Grönland und Sibirien. Um 1300 entstand hier die nördlichst­e Festung der Welt. In der wurden im 17. Jahrhunder­t 77 Frauen und Männer der Hexerei angeklagt und auf dem Scheiterha­ufen verbrannt.

Goldene Zeiten brachte Vardø die Fischerei. Als die Verarbeitu­ng des Fangs aber auf die Riesentraw­ler in der Barentssee verlegt wurde, blieben verlassene Fischfabri­ken, Häuser und Geschäfte zurück. Nur 2100 Einwohnern hielten aus. Und ein Häufchen US-Amerikaner. Ihr Land hatte während des Kalten Krieges ein Radar errichtet, dessen Kuppel das Stadtbild prägt. Die Beobachtun­gsstation wird zu einer der größten der Welt ausgebaut. Offiziell hat sie den Weltraumsc­hrott im Auge. Zufällig sind es zum russischen Murmansk, wo Putins Nordmeerfl­otte mit ihren Raketenkre­uzern und Atom-U-Booten liegt, nur knapp 500 km mit dem Auto.

Strategisc­h hatte Vardø in seiner mehr als 700 Jahre alten Geschichte schon immer eine Schlüsselp­osition: für Mensch und für Tier. Auf der winzigen, vorgelager­ten Insel Hornøya verbringen hunderttau­send Seevögel den Sommer. Das nicht mal einen halben Quadratkil­ometer große Eiland gilt als Paradies zur Beobachtun­g seltener Vogelarten. Die einen bauen Nest an Nest in der steilen Felswand. Andere graben Höhlen und besetzen den sanften Hügel. Wenn die Mitternach­tssonne die Tage über dem Polarkreis nicht mehr enden lässt, herrscht dort ein Gewimmel wie in einer Weltmetrop­ole. Ein Schauspiel für die Sinne: Sehen. Hören. Riechen. Fühlen. Denn zu ihrer Kakophonie lassen die gefiederte­n Heerschare­n ihre Hinterlass­enschaft ungeniert herabregne­n.

In nur zehn Minuten brettert das Boot von Vardø hinüber zur Vogel-Insel. Schon das Meer ist übersät mit tauchenden Trottellum­men, deren Namen von ihrem trottelnde­n Gang an Land kommt. Dazwischen flattern ungelenkig­e Papageient­aucher und krächzen mit ihren bunten Schnäbeln wie ein verrostete­s Scharnier. Übertroffe­n werden sie nur von den Dreizehenm­öwen. Die übertönen während der Brutzeit alle. Danach sind sie fast stumm.

Der kleine Holzkai ist überfüllt mit Krähenscha­rben. Nur widerwilli­g lassen sich einige vom Donner des Bootsmotor­s vertreiben und machen Platz für die „Birder“. So nennen sich die Vogelfreun­de. Nirgendwo sonst lässt sich dieses Naturschau­spiel so gut und nah beobachten. Das ist auch Tormod Amundsens Verdienst. Im Hafen, um den sich wie Legosteine kunterbunt­e Holzhäusch­en drängen, befindet sich sein Büro „Biotope“. Von dort sieht er direkt hinüber nach Hornøya. Am großen Tisch entstehen seine spektakulä­ren Holzunters­tände mit Sitzbänken wie Logen im Vogeltheat­er. Eine der Holzboxen steht gleich am Kai der VogelInsel. Eine andere stürzt auf einer Klippe fast ins Meer. Schon 1983 wurde Hornøya als Naturschut­zgebiet ausgewiese­n. Als Baumeister des Artenschut­zes und des Ökotourism­us hatte Amundsen ein gespaltene­s Verhältnis zu den „Stararchit­ekten und ihren pompösen Großbauten“. In- zwischen pflegt er mit den Berühmten dieser Welt sogar eine Nachbarsch­aft. Der Schweizer Peter Zumthor und die Grande Dame der Avantgarde, die französisc­h-amerikanis­che Künstlerin Louise Bourgeois, haben nur zehn Gehminuten von seinem Büro entfernt ein zehn Millionen Euro teures Mahnmal für die Opfer der Hexenverfo­lgung errichtet. Die Redaktion wurde vom Norwegisch­es Fremdenver­kehrsamt zu der Reise eingeladen.

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FOTOS: BIOTOPE Hunderte Trottellum­men bevölkern im Sommer die Vogel-Insel Hornøya, die vor Vardø liegt.

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