Schlüsselgewalt übers Publikum
„Dr Nest“heißt das jüngste Stück des Figurentheater-Ensembles Familie Flöz, das am Freitagabend im Stadttheater seine umjubelte Duisburg-Premiere feierte. Der Titel umschreibt das Leben in einer Klinik, die wie eine Anstalt wirkt.
Was heißt schon normal? Die Grenzen zu einer psychischen Erkrankung oder chronischer Abweichung sind nicht fest abgesteckt, verlaufend oft fließend. Auch kommt es vor, dass ein „psychisch Kranker“über erstaunliche Fähigkeiten verfügt. Der berühmte Neurobiologe und Autor Oliver Sacks (1933 – 2015) hat das in seinen Bestsellern „Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte“und „Zeit des Erwachens“auf einzigartige Weise beschrieben. Nicht zuletzt seit dem erfolgreichen Film von Milos Forman aus dem Jahr 1975, „Einer flog über
Die fünf Darsteller tragen 20 verschiedene Masken, verkörpern 20 verschiedene Rollen
und Typen.
das Kuckucksnest“ist allgemein bekannt, dass Irren menschlich ist.
Diese kleine Vorrede zielt auf das jüngste Stück des beliebten Figurentheater-Ensembles „Familie Flöz“. Am Freitagabend gab es die Duisburg-Premiere von „Dr Nest“, die im vollbesetzten Stadttheater lautstark bejubelt wurde.
Wie immer kommt das Flöz-Ensemble ohne Worte aus. Anders als sonst, gibt es bei „Dr Nest“aber ein kleines Vorspiel vor dem eigentlichen Stück: Die fünf Darsteller verteilen sich da in weißer „Anstalts“Kleidung in den Publikumsreihen, steigen über die Sitze und knipsen höflich, wenn auch scheinbar ein wenig zwanghaft die Eintrittskarten ab. Berührungsängste kennen sie nicht, von Distanz zwischen Fremden halten sie nichts. So etwas ist gewiss nicht normal. Aber ist es auch krank und behandlungsbedürftig? Die Frage wird nicht beantwortet, statt dessen beginnt auf der Bühne das Stück, das eineinhalb pausenlose Stunden aus dem vollen (Anstalts-)Leben schöpft. Es ist natürlich klar, dass mit Dr Nest nicht nur jener neue Arzt gemeint ist, der mit mehr Einfühlungsvermögen als die anderen den Patienten begegnet; das „Nest“ist auch eine Metapher für die Klinik selber, die – weniger korrekt bezeichnet – wie eine Anstalt wirkt..
Die fünf Darsteller tragen 20 verschiedene Masken, verkörpern 20 verschiedene Rollen und Typen. Der Wechsel geschieht oftmals atemberaubend schnell, bisweilen auch artistisch. Da wechselt ein Ärztekittel in Sekundenschnelle im Vorbeigehen den Träger; eine Szene, bei der das Publikum spontan applaudierte. Mit viel Ironie werden die hierarchischen Strukturen gezeigt. Da treten auf: Der arrogante Chefarzt, der den duckmausenden Assistenten schikaniert, die strenge „Oberschwester“, die alles besser zu wissen glaubt (und dabei nicht immer unrecht hat...) oder auch der kräftige Pfleger, der jedoch kleinlaut wird, wenn ihm ein Hüne von Patient gegenübertritt.
Das Auf- und Abschließen von Türen gehört zum „Nest“-Alltag, wobei die Schlüsselgewalt auch als Zeichen der Macht gedeutet wird. Viele Szenen von „Dr Nest“sind urkomisch. Bisweilen scheint jedoch die Tragik der betroffenen Men- schen auf. Da gerät die Wirklichkeit aus den Fugen, was bühnentechnisch wunderbar durch Filmeinspielungen, Beleuchtung und bewegliche Kulissen (Türen und Fenster verschieben sich unversehens) versinnlicht wird.
Interessant war vor der Aufführung das Gespräch zwischen Duisburgs Schauspielintendant Michael Steindl und Anna Kistel, die nicht nur als Darstellerin, sondern auch als Co-Autorin mitwirkte. Zunächst habe das Ensemble ohne Masken und mit Worten das Stück geprobt. Erst danach wurde mit Rollenmasken und allein mit Gesten, Körperhaltungen, Bewegungen und Musikelementen das Stück neu einstu- diert. Als Inspiration dienten dabei nicht nur einschlägige Bücher und Filme, sondern auch die persönlichen Erfahrungen eines Ensemblemitglieds, dessen Vater eine psychiatrische Klinik leitet.
Neben dem Autor dieses Artikels saß übrigens ein Ehepaar aus dem niederländischen Utrecht, das eigens für den Flöz-Abend angereist war. Es war begeistert. Um im Bild zu bleiben: Familie Flöz hat die Schlüsselgewalt übers Publikum!