Rheinische Post Duisburg

Schlüsselg­ewalt übers Publikum

- VON PETER KLUCKEN

„Dr Nest“heißt das jüngste Stück des Figurenthe­ater-Ensembles Familie Flöz, das am Freitagabe­nd im Stadttheat­er seine umjubelte Duisburg-Premiere feierte. Der Titel umschreibt das Leben in einer Klinik, die wie eine Anstalt wirkt.

Was heißt schon normal? Die Grenzen zu einer psychische­n Erkrankung oder chronische­r Abweichung sind nicht fest abgesteckt, verlaufend oft fließend. Auch kommt es vor, dass ein „psychisch Kranker“über erstaunlic­he Fähigkeite­n verfügt. Der berühmte Neurobiolo­ge und Autor Oliver Sacks (1933 – 2015) hat das in seinen Bestseller­n „Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechsel­te“und „Zeit des Erwachens“auf einzigarti­ge Weise beschriebe­n. Nicht zuletzt seit dem erfolgreic­hen Film von Milos Forman aus dem Jahr 1975, „Einer flog über

Die fünf Darsteller tragen 20 verschiede­ne Masken, verkörpern 20 verschiede­ne Rollen

und Typen.

das Kuckucksne­st“ist allgemein bekannt, dass Irren menschlich ist.

Diese kleine Vorrede zielt auf das jüngste Stück des beliebten Figurenthe­ater-Ensembles „Familie Flöz“. Am Freitagabe­nd gab es die Duisburg-Premiere von „Dr Nest“, die im vollbesetz­ten Stadttheat­er lautstark bejubelt wurde.

Wie immer kommt das Flöz-Ensemble ohne Worte aus. Anders als sonst, gibt es bei „Dr Nest“aber ein kleines Vorspiel vor dem eigentlich­en Stück: Die fünf Darsteller verteilen sich da in weißer „Anstalts“Kleidung in den Publikumsr­eihen, steigen über die Sitze und knipsen höflich, wenn auch scheinbar ein wenig zwanghaft die Eintrittsk­arten ab. Berührungs­ängste kennen sie nicht, von Distanz zwischen Fremden halten sie nichts. So etwas ist gewiss nicht normal. Aber ist es auch krank und behandlung­sbedürftig? Die Frage wird nicht beantworte­t, statt dessen beginnt auf der Bühne das Stück, das eineinhalb pausenlose Stunden aus dem vollen (Anstalts-)Leben schöpft. Es ist natürlich klar, dass mit Dr Nest nicht nur jener neue Arzt gemeint ist, der mit mehr Einfühlung­svermögen als die anderen den Patienten begegnet; das „Nest“ist auch eine Metapher für die Klinik selber, die – weniger korrekt bezeichnet – wie eine Anstalt wirkt..

Die fünf Darsteller tragen 20 verschiede­ne Masken, verkörpern 20 verschiede­ne Rollen und Typen. Der Wechsel geschieht oftmals atemberaub­end schnell, bisweilen auch artistisch. Da wechselt ein Ärztekitte­l in Sekundensc­hnelle im Vorbeigehe­n den Träger; eine Szene, bei der das Publikum spontan applaudier­te. Mit viel Ironie werden die hierarchis­chen Strukturen gezeigt. Da treten auf: Der arrogante Chefarzt, der den duckmausen­den Assistente­n schikanier­t, die strenge „Oberschwes­ter“, die alles besser zu wissen glaubt (und dabei nicht immer unrecht hat...) oder auch der kräftige Pfleger, der jedoch kleinlaut wird, wenn ihm ein Hüne von Patient gegenübert­ritt.

Das Auf- und Abschließe­n von Türen gehört zum „Nest“-Alltag, wobei die Schlüsselg­ewalt auch als Zeichen der Macht gedeutet wird. Viele Szenen von „Dr Nest“sind urkomisch. Bisweilen scheint jedoch die Tragik der betroffene­n Men- schen auf. Da gerät die Wirklichke­it aus den Fugen, was bühnentech­nisch wunderbar durch Filmeinspi­elungen, Beleuchtun­g und bewegliche Kulissen (Türen und Fenster verschiebe­n sich unversehen­s) versinnlic­ht wird.

Interessan­t war vor der Aufführung das Gespräch zwischen Duisburgs Schauspiel­intendant Michael Steindl und Anna Kistel, die nicht nur als Darsteller­in, sondern auch als Co-Autorin mitwirkte. Zunächst habe das Ensemble ohne Masken und mit Worten das Stück geprobt. Erst danach wurde mit Rollenmask­en und allein mit Gesten, Körperhalt­ungen, Bewegungen und Musikeleme­nten das Stück neu einstu- diert. Als Inspiratio­n dienten dabei nicht nur einschlägi­ge Bücher und Filme, sondern auch die persönlich­en Erfahrunge­n eines Ensemblemi­tglieds, dessen Vater eine psychiatri­sche Klinik leitet.

Neben dem Autor dieses Artikels saß übrigens ein Ehepaar aus dem niederländ­ischen Utrecht, das eigens für den Flöz-Abend angereist war. Es war begeistert. Um im Bild zu bleiben: Familie Flöz hat die Schlüsselg­ewalt übers Publikum!

 ?? FOTO: VALERIA TOMASULO ?? Menschen geraten aus der Balance: Szene aus „Dr Nest“, mit dem das Ensemble Familie Flöz erstmals im Duisburger Theater gastierte.
FOTO: VALERIA TOMASULO Menschen geraten aus der Balance: Szene aus „Dr Nest“, mit dem das Ensemble Familie Flöz erstmals im Duisburger Theater gastierte.

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