Wohin rollst du, Äpfelchen . . .
Ganz richtig. Es handelt sich – Bitte sehr, überlegen Sie sich die Sache, ich bleibe Ihnen mit meinem Vorschlag bis morgen – Täte mir leid. – Wie meinen Sie? Gewiss, das können Sie ohne weiteres. – Herr Nußbaum, ich sehe dem Ausgang des Prozesses mit Seelenruhe entgegen. Bitte sehr. Meine Verehrung.“
Vittorin nahm die Gelegenheit wahr, dem Direktor einen Beweis seines Diensteifers und seiner Kenntnis des Kundenkreises zu erbringen.
„Adolf Nussbaum und Kompagnie, Praterstraße Nr. 15“, stellte er fest. „Seifen und Fettwaren. Telegrammadresse: Fettbaum, Wien. Der Chef selbst, wenn ich mich nicht irre.“
„Jawohl, der Herr Nußbaum selbst. Haben Sie mit der Firma schon zu tun gehabt?“
„Natürlich. Eine unserer ältesten Kundschaften. Exportiert hauptsächlich nach den Balkanstaaten und die Levante. Herr Adolf Nußbaum ist ein sehr aufgeregter Herr. Bei jeder Reklamation droht er immer gleich mit den Gerichten.“
„Schön. Sie werden sich gar nicht erst lange einzuarbeiten haben“, meinte der Direktor. „Wegen des Vorschusses wenden Sie sich, wie gesagt, an den Doktor Weber, der hat das Personalreferat. Er soll mir die Kassa-Anweisung zur Unterschrift vorlegen. Übrigens, weil Sie gerade hier sind: Nehmen Sie diese Mappe mit und geben Sie sie im Vorübergehen in der Reexpeditionsabteilung ab.“
Kohout hatte sich erboten, den Pass und die für die Reise erforderlichen Sichtvermerke zu beschaffen. Dieser keineswegs leichten Aufgabe fühlte er sich durchaus gewachsen, denn er hatte in der Advokatskanzlei des Doktor Sigismund Eichkatz, bei dem er seit vierzehn Tagen eine Art Vertrauensposten bekleidete, allerlei gesehen und gelernt.
Doktor Eichkatz verdankte den Zulauf, dessen sich seine Kanzlei erfreute, seiner Fähigkeit, die Gesetze und Verordnungen, die sich dem Betätigungsdrang seiner Klienten hemmend entgegenstellten, zugleich zu respektieren und zu verachten. Er schätzte sie, weil sie, von Menschenköpfen ersonnen, ihre Herkunft nur allzu deutlich in ihren Schwächen und Unvollkommenheiten offenbarten, und er missachtete sie, weil sie sich mit dem Nimbus der Unfehlbarkeit umgaben. Niemals ließ er sich dazu bestimmen, die Gesetze zu verletzen, denn er wusste, dass sie einem beweglichen Geiste gegenüber in ihrer Unwandelbarkeit und Strenge nicht verharrten. Den Einfältigen, der sich an ihnen verging, zermalmten sie, dem Klugen, der ihnen die Ehre erwies, die sie verlangten, gaben sie den Weg frei.
Doktor Eichkatz war ein Meister in der Umgehungstaktik des Guerillakriegs. Sein Name wurde in gewissen Teilen der Stadt mit Respekt genannt, seine Adresse ging in den Kaffeehäusern, in denen man mit Jute, Stechvieh, Graupen oder Kunstseide handelte, von Hand zu Hand. Als es sich anfangs Oktober 1918 erwies, dass sein Kanzleipersonal, dass aus einem Tippfräulein und einer Aufwartefrau bestand, den gesteigerten Anforderungen des Betriebs nicht mehr gewachsen war, wurde Kohout, den Doktor Eichkatz vom Billardzimmer des Café Elite her kannte, als Hilfskraft aufgenommen und mit der Aufgabe betraut, die Akten auf dem laufenden zu halten und von saumseligen Zahlern rückständige Gelder einzutreiben.
Vittorin hatte dem Freunde seinen Besuch telephonisch angekündigt. Kohout empfing ihn mit dem leidenden Gesichtsausdruck eines Menschen, auf dessen Schultern die ganze Last einer verantwortungsvollen Arbeit ruht.
„Du mußt dich noch eine Weile gedulden“, sagte er. „Ich will nur erst einmal die Leut’, die im Wartezimmer sind, vornehmen. Setz’ dich und hör’ ein bissel zu, manchmal ist das ganz unterhaltend. In einer halben Stunde bin ich fertig – dann können wir in Ruhe deine Angelegenheit besprechen. Der Chef wird uns nicht stören. Wenn ich ihm sag’, dass ich privaten Besuch hab’ – Fräulein Gusti, der Herr Doktor läutet. Das gilt Ihnen.“
Die Stenotypistin lief ins Chefzimmer und kam gleich darauf wieder zurück.
„Herr Kohout, rasch! Den Akt Spannagel!“
Aus der offenen Tür kam, dröhnend wie Orgelton, die erregte Stimme des Doktor Eichkatz:
„Herr Spannagel, Sie fragen mich zuviel. Ich bin kein Prophet, sondern ein Rechtsanwalt. Wie Ihr Prozess ausgehen wird, weiß ich nicht. Wenn ich prophezeien könnte, würde ich die Advokatur nicht ausüben, sondern mich mit Ihnen zusammen, Herr Spannagel, im Panoptikum sehen lassen.“
„Ujeh, machen’s die Tür zu, Herr Kohout, heut’ ist er wieder narrisch“, rief von der Schreibmaschine her das Fräulein Gusti.
Kohout zog die Tür des Chefzimmers zu. Dann wandte er sich an Vittorin:
„So geht’s den ganzen Tag bei uns zu. Lang halt’ ich’s hier nicht aus, das weiß ich. Ich bitt’ dich, hast du dir die Leut’ angesehen, die draußen im Vorzimmer warten? Das ist eine Klientel, was? Das sind Visagen! Wenn man jedem von diesen Ehrenmännern drei Jahre Landesgericht aufhaut, tut man keinem unrecht. – Na also, gehn wir’s an. Fräulein Gusti, hören S’ ein bisschen auf mit Ihrem Geklapper, man versteht ja sein eigenes Wort nicht.“
Er suchte aus dem Aktenstoß, der sich vor ihm auf dem Schreibtisch türmte, ein Faszikel hervor. Dann rief er mit Stentorstimme:
„Herr Jonas Eiermann! Darf ich bitten!“
Aus dem Vorzimmer kam ein kleiner, rundlicher, spitzbärtiger Herr in einem etwas zu kurz geratenen Überzieher. Er verbeugte sich vor Kohout, rieb sich die Hände, sagte, zu Vittorin gewendet, „Eiermann“, und nahm Platz. Seinen steifen Hut hatte er auf Kohouts Schreibtisch deponiert.
„Herr Eiermann“, begann Kohout, „Sie wünschen also beim Bezirksgericht Innsbruck auf Rückerstattung einer Schuld von vierzehn Kronen geklagt zu werden. Darf ich um einen Kostenvorschuss bitten?“
„Bin ich Ihnen nicht gut?“meinte Herr Eiermann.
„Ob Sie gut oder nicht gut sind, das interessiert uns nicht“, erklärte Kohout. „Bei uns gibt es keine Ausnahmen, wir kreditieren nicht, bei uns heißt es netto Kassa, hier Kostenvorschuss, hier Klage. Bevor Sie nicht bar hier auf den Tisch, hundertsechzig Kronen erlegt haben, rühr’ ich keinen Finger.“
„Hundertsechzig Kronen kann ich nicht zahlen“, sagte Herr Eiermann nach einer Pause des Nachdenkens.
(Fortsetzung folgt)