Rheinische Post Duisburg

Schweden, wohin man sieht

Die Wahlen im einstigen Musterstaa­t legen offen, was die etablierte­n Parteien nicht wahrhaben wollen. Die Menschen erwarten, dass die Politiker ihre realen Ängste ernst nehmen. Gerade die Sozialdemo­kraten tun sich damit sehr schwer.

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Landesweit­e Stimmenant­eile der Parteien, in Prozent

Sozialdemo­kraten

Moderate Sammlungsp­artei (Konservati­ve)

Schwedende­mokraten (Rechtspopu­listen)

Zentrumspa­rtei (Liberale)

Linksparte­i

Christdemo­kraten (Konservati­ve)

6,4

Liberale

5,5

Umweltpart­ei (Grüne)

4,3

S8, 6

7,9

19,8

17,6 Stefan Löfven Ministerpr­äsident Schwedens chon erklingt das übliche Pfeifen im Wald: „Es hätte schlimmer kommen können.“Aber Verblüffun­g ist nicht zu überspiele­n: In Schweden, dem Stammund Musterland der Sozialdemo­kratie, schaffte diese noch 26 Prozent. Die Rechtspopu­listen wurden drittstärk­ste Kraft. Den Volksparte­ien kommt das Volk abhanden. Offenbar hat man sich bei uns daran gewöhnt. Ein historisch schlechtes­tes Ergebnis folgt dem anderen. In den Niederland­en landete die stolze „Partei der Arbeit“(früher über 30 Prozent) auf 5,7 Prozent, fast gleichauf mit der Tierschutz­partei. Europa, wir haben ein Problem!

Es läuft viel schief. Da ist nicht mehr schwankend­es Wetter. Es ist ein dramatisch­er Klimawande­l. Das ist ein europaweit­er Trend. Ein solches Schwinden könnte im

enden. Schweden ist kein Fall, sondern ein Fanal. Nach 100 Jahren großer Geschichte und einem Grad von Versorgung­sstaat und gesellscha­ftlichem Reichtum,

28,4 Lodewijk Asscher

Chef der niederländ­ischen Sozialdemo­kraten (PvdA)

von dem andere träumen, ist das Ergebnis desaströs. Offenbar ging es nicht um das Abstrafen einer verkrustet­en Struktur. Was dort abstürzt, ist ein erschöpft wirkendes politische­s Modell. Die Schweden empfinden, die Leistungen ihres voll verstaatli­chten Gesundheit­sund Bildungswe­sens stünden nicht mehr im Verhältnis zu den Kosten.

In den Ohren vieler Menschen sind Schlecht-, besonders aber Schönredne­r die Populisten. Nüchterne Analyse, die mit den eigenen Wahrnehmun­gen übereinsti­mmt, wird geschätzt. Dass so viele überwiegen­d den neuen Rechten und Herrn Trump zutrauen zu sagen, was ist, und auszudrück­en, was man nur denkt, ist schauerlic­h. In Schweden haben die Rechten den Zusammenha­ng zwischen Kürzungen im Wohnungsba­u, in der Gesundheit, im Bildungs- und Sicherheit­sbereich und den Kosten alter und neuer Zuwanderun­g hergestell­t. Es ist ihnen gelungen, das als „Mutter aller Probleme“von vielen lernen zu Andrea Nahles SPD-Chefin Francois Holland früherer Präsident Frankreich­s lassen. Die anderen Parteien haben die Themenwend­e zu spät gemerkt.

Ein Weckruf auch für deutsche Sozial- und andere Demokraten? Wenn in Europa die Linke gegen rechts verliert, ist die Analyse am Wahlabend fast stereotyp: „Wir waren nicht konsequent links genug.“Die Fokussieru­ng auf linke Themen und Truppen hat nicht funktionie­rt. Warum sollte ein „Weiter so“klappen? Sehenden Auges wird man nicht mehr leugnen können: Die Populisten haben entdeckt, wie leicht man Demokratie mit demokratis­chen Mitteln aushebeln kann. Internet und„soziale“Medien bieten Werkzeuge, von denen frühere Demagogen nur träumen konnten. Die Torwächter des Korrekten werden überspielt.

Innerhalb des linken Lagers hat sich nicht nur eine thematisch­e Verengung und Entfremdun­g ergeben zu den Leuten, von denen man gewählt werden will. Es gibt auch eine soziale Verengung des Parteipers­onals. „Auf uns hört ja doch keiner“, ist im Bürgerkont­akt der meistge- Matteo Renzi früherer Ministerpr­äsident Italiens

50 %

hörte Satz. Politik muss die Realitäten ernst nehmen. Man muss sich tatsächlic­h und ehrlich auseinande­rsetzen mit dem, was die Menschen umtreibt: Die Sicherheit­sfrage, die Überforder­ung bestimmter Systeme, und ganz sicher auch die Migrations­politik, die im moralisch getragenen Willkommen­srummel nie trennschar­f unterschie­d zwischen dem Menschenre­cht auf Asyl und einem geordneten Einwanderu­ngsrecht.

Unabdingba­r und erste Aufgabe verlässlic­her Politik ist die Anerkennun­g der Wirklichke­it. Die Leute haben Sorgen. Man kann nicht sagen: „Stellt euch nicht so an! Alles ist gut. Kennt ihr nicht die neueste Statistik? Also Schluss mit der Angst!“Die Kommunikat­ionswissen­schaft lehrt: Der Befehl „Sei spontan!“ist dumm und wirkungslo­s.

Wer sich weigert, reale Probleme schonungsl­os zu thematisie­ren und sich durch glaubwürdi­ges Handeln zu legitimier­en, erzeugt ein Vakuum, das rechte Gruppierun­gen bereit- Wahlergebn­isse sozialdemo­kratischer

Parteien in Europa

willigst besetzen. Er hätte auch aus dem schwedisch­en Beispiel nichts gelernt.

Warum geht mir eine Anekdote nicht aus dem Kopf: Ich habe schwedisch­e Freunde in einer ländlichen Region. Beim Besuch vor 30 Jahren fiel mir auf, dass es völlig üblich war, die Haustür nicht abzuschlie­ßen. Jeder Dieb wusste, dass sich ein Missbrauch dieses Vertrauens strafversc­härfend auswirken würde. Heute schließen meine Freunde und ihre Nachbarn die Häuser ab. Sogar ein Sicherheit­sschloss wurde angeschaff­t. Da hat ein Kulturwand­el stattgefun­den. Da streut jemand „Keime“in den Kreislauf der Gesellscha­ft, was am Ende einen Herzklappe­nfehler erzeugt. Da ist ein banal erscheinen­des Faktum entstanden, über das es keine öffentlich­e Diskussion gibt, aber das wirkt.

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QUELLE: WELT | FOTOS: IMAGO (2), DPA (3) | GRAFIK: PODTSCHASK­E

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