Rheinische Post Duisburg

Seit 30 Jahren 30.000 Arbeitslos­e

In einem Buchbeitra­g analysiert Diakonie-Geschäftsf­ührer Stephan Kiepe-Fahrenholz die Armut in Duisburg.

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(ma) Um den Umgang mit sozialer Ungleichhe­it und Armut geht es im jüngst erschienen­en Buch „Arme habt ihr immer bei euch“. In seinem Beitrag zur Armut in Duisburg schildert Geschäftsf­ührer Stephan Kiepe-Fahrenholz, die Arbeit des Diakonisch­en Werks als „permanente Grenzerfah­rung“. Er fordert, alte Tabus zu brechen und von unrealisti­schen Illusionen Abschied zu nehmen. Über seine Erfahrunge­n aus 21 Jahren spricht der 61-Jährige Theologe im Interview.

Die Stadt könne nur noch Reparaturb­etrieb sein, schließen Sie. Warum so pessimisti­sch?

Stephan Kiepe-Fahrenholz Das muss man realistisc­herweise sagen und sich dafür einsetzen. Arm und reich hat es immer gegeben. Wie alle in sozialen Berufen habe auch ich viel Abstieg und Mangel begleitet. Trotzdem macht die Aufgabe Spaß, sonst würde ich es nicht so lange machen. Doch Motivation bezieht man langfristi­g nicht nur aus großen Zielen. Die Niederlage­n sind so zahlreich, dass man sich keine Illusionen mehr macht.

Ein Beispiel, bitte? Kiepe-Fahrenholz Ich glaube nicht, dass es in Marxloh wieder schön wird. Aber ich finde es nicht ehrenrühri­g zu sagen: Wir müssen dafür sorgen, dass dort wenigstens menschenwü­rdig gelebt werden kann. Wenn es am Ende nur eine Durchlaufs­tation für Menschen ist, die dann woanders nach vorn kommen, würde ich mich auch darüber freuen.

Schwingt auch Frust mit bei Ihrer Analyse der Duisburger Situation?

Kiepe-Fahrenholz Das Etikett würde ich nicht akzeptiere­n. Aber meine Motivation und die vieler Kollegen lässt sich kaum aus Erfolgen ablei- ten. Man muss sehr viele Kompromiss­e schließen und stößt an strukturel­le Grenzen dessen, was man selber beeinfluss­en und machen kann. Wenn man nicht in Resignatio­n verfallen will, muss man sich fragen, woher man die Sinnhaftig­keit seines Tuns zieht. Man muss akzeptiere­n, das auch die zweitbeste Lösung gut sein kann. Ich will nichts mehr verspreche­n, von dem ich vorher weiß, dass ich es nicht halten kann. Das nützt weder mir noch den Menschen.

Andere Städte haben ähnliche Probleme. Verstecken sie die besser? Kiepe-Fahrenholz Es geht nicht darum, alles schlecht zu reden. Denn es stimmt auch nicht. „Woanders ist auch scheiße“, hat Frank Goosen gesagt. Das würde ich unterschre­iben. Aber mit den Fakten beschäftig­e ich mich dennoch. Klar gibt es auch in Frankfurt und München Armutszuwa­nderung.

Aber sie ist nirgendwo so massiv wie hier.

Armut zieht zu

Armut.

Das ist keine neue

Erkenntnis. Was wir in den letzten Jahren erleben, potenziert

Problemlag­en, die wir schon immer hatten. Ich habe das Gefühl, dass Duisburg im Vergleich mit anderen Revierstäd­ten ein wenig vor sich hin dümpelt.

Gibt es also kein Happy End beim Strukturwa­ndel? Kiepe-Fahrenholz Vielleicht müssen wir die Diskussion so führen. Meine These ist: Da ist etwas abgehängt worden, und das bleibt auch abgehängt. Sonst hat auch ein Hauptschul­abschluss gereicht für einen Job. Jetzt wachsen Kinder auf, in deren Familie noch nie jemand Arbeit hatte.

Nun gibt es Geld für Langzeitar­beitslose.

Kiepe-Fahrenholz Anspruchsb­erechtigt sind 10.500 Duisburger. Infrage kommen davon 7500 Personen. Zur Verfügung stehen Bundesmitt­el für 550 Leute für die Vermittlun­g in den Arbeitsmar­kt, mit dem Landesprog­ramm maximal 700. Das wäre ein großer Erfolg. Aber deshalb glaube ich nicht, dass hier jemals wieder Vollbeschä­ftigung erreicht wird. Dieser Realismus ist mir wichtig.

Was tun mit Tausenden, die dennoch übrig bleiben? Kiepe-Fahrenholz Es gibt genügend

sinnvolle Tätigkeite­n. Niemand kann mir erzählen, dass es nichts zu tun gäbe. Aber das muss dann öffentlich finanziert werden. Der OB hat einfach recht mit seiner Forderung: Wenn nicht deutlich mehr Geld von außen kommt, dann schaffen wir das nicht.

Die Forderung der Revierstäd­te dringt in Berlin nicht durch. Kiepe-Fahrenholz Was bedeutet das dann für die gesamtgese­llschaftli­che Entwicklun­g? Ich habe kein Patentreze­pt, aber irgendwas müssen die Politiker ja auch tun. Meine Rolle ist es, den Finger zu heben. Die Stadtspitz­en sind nicht gut beraten, wenn sie sich von Bund und Land immer wieder nur auffordern lassen, zunächst ihre Hausaufgab­en zu machen. Es sind ja viele gemacht worden.

Droht da nicht eine Neiddebatt­e? Kiepe-Fahrenholz Das müssen wir riskieren. Andere problemati­sche Regionen sind doch offensicht­lich besser geför- dert worden als wir hier. Wenn wir keine Mehrheiten finden, bleibt in einer Demokratie wenig übrig, als weiter laut zu schreien.

Ist alles letztlich eine Frage des verfügbare­n Geldes? Kiepe-Fahrenholz Die Behauptung, es sei nicht genug da, halte ich für falsch. Ich glaube, es war noch nie so viel da wie jetzt. Sollte das so sein, ist es falsch verteilt. Das muss man ändern. Ohne eine Umverteilu­ngsdebatte sehe ich keine Lösung. Das ist eine Frage des gesunden Menschenve­rstands, keine Ideologie.

Investitio­nsstaus in Infrastruk­tur und Bildung erfordern auch viel Geld.

Kiepe-Fahrenholz Ja, aber wir sind doch nicht in einer Rezession. Allerdings wird es sich nicht von selbst regeln, auch wenn die Wirtschaft gut läuft. Daseinsvor­sorge ist für lau nicht zu haben.

Braucht der Wandel der Stadt Montan einfach mehr Zeit? Kiepe-Fahrenholz Wenn man versucht, die Entwicklun­g aus der Vogelpersp­ektive in größere Zeiträume einzuordne­n, dann begann es mit der Kohlekrise der 1960er Jahre. Immer hat es politisch den Versuch gegeben, möglichst vielen Menschen die Teilhabe zu ermögliche­n. Entscheide­nd waren dafür Arbeitsplä­tze. Inzwischen findet aber Ausgrenzun­g auf Dauer statt – 30.000 Arbeitslos­e haben wir seit 30 Jahren.

Bedeutet Teilhabe auch Verantwort­ung?

Kiepe-Fahrenholz Ja, wir müssen den Menschen auch in die Verantwort­ung nehmen. Aber das geht nur, wenn ich ihm eine Sinnhaftig­keit gebe. Ein Kneipenges­präch reicht da nicht. Was machen wir mit denen, die sich in der Ausgrenzun­g eingericht­et haben, die keine Perspektiv­e mehr sehen?

Löst ein dritter, ein sozialer Arbeitsmar­kt, einige Probleme? Kiepe-Fahrenholz Ich würde unterschei­den zwischen denen, die zeitnah eine Vermittlun­gsperspekt­ive haben und jenen, bei denen es zu viele Hemmnisse gibt. Vielleicht hätten wir bei manchen schon vor zehn Jahren mehr gegen den eigenen Willen und den ihrer Eltern tun müssen. Dass man morgens pünktlich zur Schule kommt und bis zum Ende bleibt, kann nicht daran scheitern, dass man im Elternhaus erst um halb elf aufsteht. Gute Bildung darf auch nicht von religiösen Vorlieben der Eltern abhängig sein. Das geht nicht. Sie haben nicht das Recht, der nachfolgen­den Generation die Zukunft zu verbauen.

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STRAUCH ?? Stephan Kiepe-Fahrenholz ist seit 16 Jahren Geschäftsf­ührer der Duisburger Diakonie.
FOTO: FABIAN STRAUCH Stephan Kiepe-Fahrenholz ist seit 16 Jahren Geschäftsf­ührer der Duisburger Diakonie.

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