Kein Elternunterhalt für gehörlose Mutter
Renate Walte und ihre Schwester stritten bis zur letzten Instanz um Mehrkosten, die die Stadt für die Unterbringung ihrer gehörlosen Mutter in einem Pf legeheim erheben wollte.
(RPN) Renate Walte (47) aus Moers und ihre zwei Jahre jüngere Schwester Anja Bosserhoff aus Düsseldorf lagen in den vergangenen zwei Jahren im Rechtsstreit mit der Stadt Duisburg. Dieser endete kürzlich in letzter Instanz vor dem Bundesgerichtshof (BGH) in Karlsruhe. Es ging dabei um die Kosten für die Unterbringung ihrer gehörlosen Mutter in einer Meidericher Pflegeeinrichtung. Der Beschluss des BGH betrifft alle Gehörlosen und deren Angehörigen in Deutschland. Dies ist Waltes Geschichte.
Im Jahr 2011 entschieden Renate Walte und ihre Schwester, dass ihre von Geburt an gehörlose Mutter Eleonore „Ellen“Walte (heute 76) in eine Pflegeeinrichtung ziehen soll. Sie wählten das Peter-Kuhn-Haus an der Bonhoeffer-Straße aus, weil es dort in Meiderich eine Station gab, die auf die Bedürfnisse von gehörlosen Menschen ausgerichtet ist. „Wir haben dann eines Tages Post vom Sozialamt der Stadt bekommen, dass meine Schwester und ich verpflichtet seien, Elternunterhalt zu zahlen“, erzählt Walte. Der Satz berechnet sich nach der Höhe der Einkommen der Kinder. „Und ab 2012 haben meine Schwester und ich dann auch jeweils Elternunterhalt gezahlt.“
Im Jahr 2013 kam dann zum zweiten Mal Post vom Sozialamt. Darin: eine Nachzahlungs-Aufforderung. Die Kosten für die Pflege der Mutter hätten sich um 500 Euro erhöht. Pro Monat, wohlgemerkt. Walte fand schnell heraus, dass diese erhöhte Forderung aber nur für die 15 gehörlosen Menschen in der Einrichtung erhoben wurde, nicht aber für die übrigen Bewohner. Begründet wur- de das etwa mit dem Einsatz der Gebärdensprache, der für die Pfleger einen erheblichen Mehraufwand bedeute, argumentierte das Sozialamt. Auch entstünden durch die Schulung des Personals in Gebärdensprache Mehrkosten. „Wenn Gehörlose zum Arzt oder ins Krankenhaus gehen oder vor Gericht stehen, haben sie das gesetzlich vorgeschriebene Anrecht auf einen Dolmetscher. Wir haben es nicht verstanden, warum ausgerechnet in einem Pflegeheim ein behinderter Mensch für seine Behinderung noch drauf zahlen soll“, sagt Walte. Schriftlich teilten die Schwestern dem Sozialamt mit, dass sie sich weigern, diesen Aufschlag für Gehörlose zu zahlen.
Anfang 2016 verklagte die Stadt Duisburg die Schwestern auf Zahlung des rückständigen Unterhalts. „Damals hatte sich schon eine fünfstellige Summe angesammelt“, so Walte. Verhandelt wurde am Amtsgericht Düsseldorf. Dieses fällte den Beschluss, den Antrag der Stadt auf Zahlung zurückzuweisen. „Das war für uns ein Moment der Euphorie und eine Bestätigung für mein persönliches Rechtsempfinden“, erinnert sich Walte, die im beruflichen Alltag als Rechtsanwalts-Fachangestellte arbeitet.
Die Stadt wollte sich mit dem Beschluss des Amtsgerichts nicht zufriedengeben und legte Beschwerde dagegen ein.
So kam es im Juni 2017 zu einem Wiedersehen der streitenden Parteien vor dem Oberlandesgericht Düsseldorf.
Dieses gab der Beschwerde der Stadt statt. Die Schwestern sollten nachzahlen, so die drei
Richter. „Wir konnten es kaum glauben und waren am Boden zerstört“, erinnert sich Walte an die damalige Stimmungslage.
Nun mussten die Schwestern innerhalb weniger Wochen entscheiden, ob sie nun in die letzte Instanz gehen wollten: den BGH. „Uns war klar: Das wird richtig teuer, wenn wir auch dort unterliegen“, so Walte. Zu diesem Zeitpunkt lastete nicht nur die eingeforderte Nachzahlung für das Pflegeheim auf ihren Schultern. „Als Verlierer hätten wir auch die gesamten Verfahrenskosten für uns und für die Stadt zahlen müssen. Wir reden hier über eine hohe fünfstellige Summe. Das war für uns existenzbedrohend“, schildert Walte die Ängste.
„Uns war aber schnell klar, das wir diese Entscheidung so nicht stehen lassen konnten und wollten.“Im
August
2017 dann der einhellige Entschluss: „Wir ziehen vor den BGH.“Verbunden wurde das mit einem Spendenaufruf auf den privaten Facebookseiten der Schwestern.
Dieser zog schnell weite Kreise, auch weil der Deutsche Gehörlosenbund von der Sache erfuhr und seine Unterstützung zusagte. „In kürzester Zeit hatten wir Spenden in Höhe von rund 21.000 Euro zusammen. Das hat uns sehr ermutigt und ein Stück weit die größten Ängste genommen.“
Im Februar 2018 bekamen die beiden Schwestern mitgeteilt, dass die Entscheidung am BGH am 12. September fallen wird. An jenem Tag fuhr Renate Walte persönlich nach Karlsruhe. Mit ihrem Rechtsbeistand saß sie den fünf obersten Richtern in ihren roten Roben gegenüber. Innerhalb einer Stunde
hat- ten beide Seiten – die Stadt war nur durch ihren Rechtsbeistand vor Gericht vertreten – die Zeit, um ihre Sicht der Dinge zu schildern. „Ich hatte danach das Gefühl, dass es gut für uns gelaufen war. Aber aus Angst, erneut enttäuscht zu werden, wollte ich das gar nicht wahrhaben“, schildert Walte. Um 10 Uhr zogen sich die Richter zur Beratung zurück. Walte verbrachte die Zeit in der Karlsruher Innenstadt. Um 14 Uhr dann der Anruf aus der Kanzlei ihres Anwalts. „Da hat mir das Herz bis zum Hals geschlagen.“Und so erfuhr sie: „Wir haben gewonnen!“
In diesem Moment entlud sich der über die Jahre aufgebaute innerliche Druck schlagartig. „Ich habe in einer Sekunde schluchzend geheult und dabei laut gelacht“, so Walte. Von diesem Beschluss können nun alle Angehörigen von Gehörlosen profitieren. „Uns ist es wichtig, dass wir nichts gegen das Haus haben, in dem unsere Mutter untergebracht ist“, stellt Walte klar. „Wir konnten es aber nicht akzeptieren, dass unsere Mutter nur aufgrund ihrer Behinderung mehr zahlen sollte.“Das hat nun ein Ende.