Rheinische Post Duisburg

Die Rhein-Wiesn

60.000 Menschen kommen zum Xantener Oktoberfes­t – und amüsieren sich prächtig. Weshalb hüllen sich Rheinlände­r in Dirndl und Lederhosen, um Weißbier zu trinken, Haxe zu essen und Schlager zu schmettern? Ein Erklärungs­versuch.

- VON BARBARA GROFE UND JULIA LÖRCKS

Verdammt wackelig ist es auf dieser Bierbank. Sie ist zu schmal, die Schuhe sind zu hoch, und mit zwei Maß Bier im Bauch ist die Balance nicht mehr die beste. Auf der Bank zu sitzen wäre kein Problem. Auf ihr zu stehen ist ein großes. Gefühlt alle paar Minuten geht das so: aufstehen, auf die Bank klettern, das „Fliegerlie­d“singen, das wirklich schwere Glas mit beiden Händen hochhalten – und nicht runterfall­en. Bloß nicht runterfall­en. Wer das Oktoberfes­t in Xanten besucht, sollte im Idealfall keinen Knieschade­n haben und keine kaputte Hüfte, sollte nicht zu Schwindel neigen oder zu genant sein, um sich beim Nachbarn unterzuhak­en. Und vor allem: Wer das Oktoberfes­t besucht, sollte in dem Moment, in dem er auf die Bank steigt, den Maßkrug hebt und laut das „Fliegerlie­d“oder „Cordula Grün“oder „Hulapalu“mitsingt, nicht darüber nachdenken, warum zum Geier er das tut, wo er doch im echten Leben auf coole Netflix-Serien, elektronis­che Musik und Club-Mate steht. Ironisch distanzier­t funktionie­rt nicht. Einfach mitmachen sehr wohl.

Wilfried Meyer, Leiter des Freizeitze­ntrums Xanten (FZX) wusste schon immer, dass es funktionie­rt. Auch schon, als außer ihm noch keiner in seinem Umfeld an die Idee „Oktoberfes­t in Xanten“glaubte. Am 12. Oktober 1999, nach der Premiere – das Fest dauerte nur ein langes Wochenende und nicht vier Wochen

„Ich wollte nicht nur eine karierte Tischdecke ausbreiten

und fertig“

Wilfried Meyer

FZX-Chef

wie heute –, sprach Meyer im RP-Interview von „bestimmt 3000 Besuchern in drei Tagen“. Fragt man ihn heute, sagt er, das Zelt sei sehr leer gewesen am ersten Abend, und dass das ganze erste Jahr „wirtschaft­lich wirklich kein Bringer“war. Der Kegelclub aus Veen an einem Tisch, der Mädelstrup­p aus Sonsbeck am anderen, die Tennisfreu­nde aus Xanten am dritten Tisch. Mehr war nicht. Heute kommen ganze Busladunge­n mit Menschen aus Duisburg, Essen und vom ganzen Niederrhei­n an die Xantener Südsee, um sich für einen Abend oder Tag fast ein bisschen wie in München zu fühlen.

Denn Parallelen zu dem Original aus München, wo schon seit 184 Jahren gefeiert wird, gibt es einige: Auch in Xanten trinkt man Löwenbräu, die Oberbayern-Band, die freitags und samstags fast 5000 Menschen einheizt, spielte schon in München, das Festzelt wurde bei einem bayrischen Zeltbauer in Auftrag gegeben, und auch in Xanten feiert kaum einer ohne Dirndl und Lederhose. Gegessen wird natürlich Leberkäse und Schweinsha­xe und Obazda. Für Wilfried Meyer war klar: Sein Fest soll so nah wie irgend möglich dran sein am Münchner Original. „Ich wollte nicht nur eine karierte Tischdecke ausbreiten und fertig.“

Zwei Jahre lang wurde an einem Wochenende gefeiert, dann ging es hoch auf zwei Wochenende­n. Seit wann vier Wochen am Stück gefeiert wird, weiß der FZX-Chef nicht mehr. Was er noch weiß: „Dass ich damals zu lange gezögert habe.“Denn das Interesse der Leute war enorm. Heute ist das Interesse am Xantener Oktoberfes­t, das damit wirbt, mit rund 60.000 Gästen in vier Wochen das größte außerhalb Bayerns zu sein, so groß, dass Karten für reserviert­e Sitzplätze an den Fest-Samstagen im kommenden Jahr direkt nach dem ersten Fest-Wochenende in diesem Jahr geordert werden müssen. Sonn- tags allerdings kann jeder kommen, wann und wie er will.

Über den Boom von Oktoberfes­ten (denn Xanten ist natürlich nicht allein – im ganzen Rheinland wird mittlerwei­le bayrisch gefeiert) wundert sich Sacha Szabo, Soziologe und Unterhaltu­ngswissens­chaftler am Institut für Theoriekul­tur in Freiburg, nicht. Szabo hat ein Buch geschriebe­n über das „Phänomen Oktoberfes­t“und sagt: „Dieses besondere Volksfest eröffnet ein sorgloses Parallelun­iversum jenseits des Alltags.“Wie und warum das Spiel „Wir tun so, als lebten wir in Bayern“funktionie­rt? Szabo hat diverse Erklärungs­ansätze: In einer Welt, in der sich traditione­lle Strukturen immer stärker auflösen, in der es eine heftige Tendenz zur Vereinzelu­ng gibt, in der Geschlecht­errollen und -bilder so intensiv in Frage gestellt werden wie nie zuvor, ist es aus Szabos Sicht überaus mensch- lich, sich dann und wann nach dem großen, kollektive­n Wir zu sehnen. Nach dem Gefühl, aufgehoben zu sein in einer großen Gruppe. Und wer sich freitag- oder samstagabe­nds in Dirndl oder Lederhose ins Festzelt setzt, wer mit dem Nachbarn schunkelt, auf die Bank steigt und gemeinsam Songs schmettert, die jeder nach einmal Hören mitsingen kann, der fühlt sich verbunden. Denn: „Diese Rituale – trinken, singen, schunkeln – verstärken das Gruppengef­ühl.“

Wilfried Meyer drückt es weniger theoretisc­h aus, dürfte aber das gleiche meinen wie der Freiburger Wissenscha­ftler: „Auf dem Münchner Oktoberfes­t hat mir mal ein UrBayer gesagt: ,Die Leute wollen einfach die Sau rauslassen.’ Das habe ich bis heute nicht vergessen.“Was Meyer „die Sau rauslassen“nennt, bezeichnet der Freiburger Forscher als „außeralltä­glichen Zustand“. Viele Menschen sehnen sich danach, die eigenen Sorgen, den lästigen Alltag, alles Belastende für einen Moment zu vergessen. Im Rausch, und damit ist mehr als nur der Alkohol-Rausch gemeint, funktionie­rt das deutlich einfacher. Weil an die Stelle des anstrengen­den, nervigen, langweilig­en Alltäglich­en das große, bunte, laute Wir-Erlebnis tritt, das so gar nichts zu tun hat mit dem Leben als Bankangest­ellter oder Versichung­skauffrau oder Stadtdirek­tor. „Wie in einer ganz anderen Welt“, so sagt Meyer dazu.

Wenn man es denn zulassen kann oder will. Wer sich immer wieder selbst reflektier­t, wer sich fragt, ob es nicht total albern und uncool ist, am tiefsten Niederrhei­n ein Dirndl zu tragen und auf einer Bank stehend „Ein Prosit der Gemütlichk­eit“zu singen, wird es schwer haben, wird es nicht schaffen in diese andere Welt, von der Meyer spricht. Alle anderen fangen um 17 Uhr am Nachmittag an, essen, trinken die erste Maß und die zweite, die Musik wird immer lauter, die Menschen auch. Irgendwann steht man auf der Bank, Rücken an Rücken mit Nachbartis­ch-Menschen, Hüfte an Hüfte mit den Gästen rechts und links. Irgendwann macht es nichts mehr, wenn das Bier überschwap­pt, und dann ist er weg, der Alltag.

Aber es gibt auch Regeln in der Oktoberfes­t-Welt von Wilfried

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FOTO: FISCHER Rund 5000 Menschen feiern pro Abend im Xantener Festzelt.
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