Die Rhein-Wiesn
60.000 Menschen kommen zum Xantener Oktoberfest – und amüsieren sich prächtig. Weshalb hüllen sich Rheinländer in Dirndl und Lederhosen, um Weißbier zu trinken, Haxe zu essen und Schlager zu schmettern? Ein Erklärungsversuch.
Verdammt wackelig ist es auf dieser Bierbank. Sie ist zu schmal, die Schuhe sind zu hoch, und mit zwei Maß Bier im Bauch ist die Balance nicht mehr die beste. Auf der Bank zu sitzen wäre kein Problem. Auf ihr zu stehen ist ein großes. Gefühlt alle paar Minuten geht das so: aufstehen, auf die Bank klettern, das „Fliegerlied“singen, das wirklich schwere Glas mit beiden Händen hochhalten – und nicht runterfallen. Bloß nicht runterfallen. Wer das Oktoberfest in Xanten besucht, sollte im Idealfall keinen Knieschaden haben und keine kaputte Hüfte, sollte nicht zu Schwindel neigen oder zu genant sein, um sich beim Nachbarn unterzuhaken. Und vor allem: Wer das Oktoberfest besucht, sollte in dem Moment, in dem er auf die Bank steigt, den Maßkrug hebt und laut das „Fliegerlied“oder „Cordula Grün“oder „Hulapalu“mitsingt, nicht darüber nachdenken, warum zum Geier er das tut, wo er doch im echten Leben auf coole Netflix-Serien, elektronische Musik und Club-Mate steht. Ironisch distanziert funktioniert nicht. Einfach mitmachen sehr wohl.
Wilfried Meyer, Leiter des Freizeitzentrums Xanten (FZX) wusste schon immer, dass es funktioniert. Auch schon, als außer ihm noch keiner in seinem Umfeld an die Idee „Oktoberfest in Xanten“glaubte. Am 12. Oktober 1999, nach der Premiere – das Fest dauerte nur ein langes Wochenende und nicht vier Wochen
„Ich wollte nicht nur eine karierte Tischdecke ausbreiten
und fertig“
Wilfried Meyer
FZX-Chef
wie heute –, sprach Meyer im RP-Interview von „bestimmt 3000 Besuchern in drei Tagen“. Fragt man ihn heute, sagt er, das Zelt sei sehr leer gewesen am ersten Abend, und dass das ganze erste Jahr „wirtschaftlich wirklich kein Bringer“war. Der Kegelclub aus Veen an einem Tisch, der Mädelstrupp aus Sonsbeck am anderen, die Tennisfreunde aus Xanten am dritten Tisch. Mehr war nicht. Heute kommen ganze Busladungen mit Menschen aus Duisburg, Essen und vom ganzen Niederrhein an die Xantener Südsee, um sich für einen Abend oder Tag fast ein bisschen wie in München zu fühlen.
Denn Parallelen zu dem Original aus München, wo schon seit 184 Jahren gefeiert wird, gibt es einige: Auch in Xanten trinkt man Löwenbräu, die Oberbayern-Band, die freitags und samstags fast 5000 Menschen einheizt, spielte schon in München, das Festzelt wurde bei einem bayrischen Zeltbauer in Auftrag gegeben, und auch in Xanten feiert kaum einer ohne Dirndl und Lederhose. Gegessen wird natürlich Leberkäse und Schweinshaxe und Obazda. Für Wilfried Meyer war klar: Sein Fest soll so nah wie irgend möglich dran sein am Münchner Original. „Ich wollte nicht nur eine karierte Tischdecke ausbreiten und fertig.“
Zwei Jahre lang wurde an einem Wochenende gefeiert, dann ging es hoch auf zwei Wochenenden. Seit wann vier Wochen am Stück gefeiert wird, weiß der FZX-Chef nicht mehr. Was er noch weiß: „Dass ich damals zu lange gezögert habe.“Denn das Interesse der Leute war enorm. Heute ist das Interesse am Xantener Oktoberfest, das damit wirbt, mit rund 60.000 Gästen in vier Wochen das größte außerhalb Bayerns zu sein, so groß, dass Karten für reservierte Sitzplätze an den Fest-Samstagen im kommenden Jahr direkt nach dem ersten Fest-Wochenende in diesem Jahr geordert werden müssen. Sonn- tags allerdings kann jeder kommen, wann und wie er will.
Über den Boom von Oktoberfesten (denn Xanten ist natürlich nicht allein – im ganzen Rheinland wird mittlerweile bayrisch gefeiert) wundert sich Sacha Szabo, Soziologe und Unterhaltungswissenschaftler am Institut für Theoriekultur in Freiburg, nicht. Szabo hat ein Buch geschrieben über das „Phänomen Oktoberfest“und sagt: „Dieses besondere Volksfest eröffnet ein sorgloses Paralleluniversum jenseits des Alltags.“Wie und warum das Spiel „Wir tun so, als lebten wir in Bayern“funktioniert? Szabo hat diverse Erklärungsansätze: In einer Welt, in der sich traditionelle Strukturen immer stärker auflösen, in der es eine heftige Tendenz zur Vereinzelung gibt, in der Geschlechterrollen und -bilder so intensiv in Frage gestellt werden wie nie zuvor, ist es aus Szabos Sicht überaus mensch- lich, sich dann und wann nach dem großen, kollektiven Wir zu sehnen. Nach dem Gefühl, aufgehoben zu sein in einer großen Gruppe. Und wer sich freitag- oder samstagabends in Dirndl oder Lederhose ins Festzelt setzt, wer mit dem Nachbarn schunkelt, auf die Bank steigt und gemeinsam Songs schmettert, die jeder nach einmal Hören mitsingen kann, der fühlt sich verbunden. Denn: „Diese Rituale – trinken, singen, schunkeln – verstärken das Gruppengefühl.“
Wilfried Meyer drückt es weniger theoretisch aus, dürfte aber das gleiche meinen wie der Freiburger Wissenschaftler: „Auf dem Münchner Oktoberfest hat mir mal ein UrBayer gesagt: ,Die Leute wollen einfach die Sau rauslassen.’ Das habe ich bis heute nicht vergessen.“Was Meyer „die Sau rauslassen“nennt, bezeichnet der Freiburger Forscher als „außeralltäglichen Zustand“. Viele Menschen sehnen sich danach, die eigenen Sorgen, den lästigen Alltag, alles Belastende für einen Moment zu vergessen. Im Rausch, und damit ist mehr als nur der Alkohol-Rausch gemeint, funktioniert das deutlich einfacher. Weil an die Stelle des anstrengenden, nervigen, langweiligen Alltäglichen das große, bunte, laute Wir-Erlebnis tritt, das so gar nichts zu tun hat mit dem Leben als Bankangestellter oder Versichungskauffrau oder Stadtdirektor. „Wie in einer ganz anderen Welt“, so sagt Meyer dazu.
Wenn man es denn zulassen kann oder will. Wer sich immer wieder selbst reflektiert, wer sich fragt, ob es nicht total albern und uncool ist, am tiefsten Niederrhein ein Dirndl zu tragen und auf einer Bank stehend „Ein Prosit der Gemütlichkeit“zu singen, wird es schwer haben, wird es nicht schaffen in diese andere Welt, von der Meyer spricht. Alle anderen fangen um 17 Uhr am Nachmittag an, essen, trinken die erste Maß und die zweite, die Musik wird immer lauter, die Menschen auch. Irgendwann steht man auf der Bank, Rücken an Rücken mit Nachbartisch-Menschen, Hüfte an Hüfte mit den Gästen rechts und links. Irgendwann macht es nichts mehr, wenn das Bier überschwappt, und dann ist er weg, der Alltag.
Aber es gibt auch Regeln in der Oktoberfest-Welt von Wilfried