Labour liebäugelt mit zweitem Brexit-Referendum
Die britische Premierministerin Theresa May lässt Gerüchte dementieren, sie strebe im November Neuwahlen an.
LIVERPOOL Wenn die Parteimitglieder es denn wollen, ließ Labour-Chef Jeremy Corbyn am Sonntag überraschend und zur Freude von vielen Genossen verlauten, werde er natürlich ein zweites Referendum über den Brexit unterstützen. Na endlich. Bisher hatte Corbyn, der als euroskeptisch gilt, es immer vermieden, sich für eine erneute Volksabstimmung über den EU-Austritt auszusprechen. Allenfalls als eine von mehreren Möglichkeiten wollte er sie zulassen, zog aber Neuwahlen vor. Jetzt wurde der Druck zu groß, und der Labour-Chef musste seine Position modifizieren.
Am Sonntag begann der Parteitag von Labour in Liverpool. Mehr als 120 Ortsvereine haben Anträge eingereicht, um auf dem bis Mittwoch dauernden Kongress ein zweites Referendum zu debattieren. Es wird erwartet, dass die Delegierten die Parteiführung anweisen, die sogenannte „People‘s Vote“, eine Volksabstimmung über den Brexit-Deal, zu unterstützen.
Labour wird immer mehr zu einer „Remainer“-Partei. Im Referendum von 2016 hatten sich noch 40 Prozent der Wähler der Arbeiter-Partei für ein Verlassen der EU ausgesprochen. Jetzt demonstriert eine Umfrage des Instituts YouGov ein Umdenken. 90 Prozent der La- bour-Mitglieder erklärten, in der EU bleiben zu wollen, 86 Prozent verlangen, ein letztes Wort über den Brexit-Deal in einem erneuten Referendum. Auch im Rest der Bevölkerung wird die Skepsis gegenüber dem Austritt größer. 47 Prozent der Briten denken, dass es falsch sei, die EU zu verlassen, gegenüber 40 Prozent, die es für richtig halten – es ist die bisher größte Kluft zwischen „Remainer“und „Leaver“.
Eine weitere Umfrage fand heraus, dass Labour rund 1,5 Millionen zusätzliche Stimmen einfahren könnte, sollte die Partei ein zweites Referendum unterstützen. Das würde den Gewinn von 66 zusätzlichen Mandaten und damit eine absolute Mehrheit im Unterhaus bedeuten. Jeremy Corbyn will den Parteitag nutzen, um Labour als Regierung im Wartestand zu präsentieren. Er präsentierte am Sonntag eine neue politische Initiative. In Betrieben von mehr als 250 Mitarbeitern soll ein Drittel der Vorstandssitze für Arbeiter reserviert werden, um ein Gegengewicht zur „rücksichtslosen Unternehmens-Kultur“zu schaffen. Es ist ein geschickter Schachzug von Labour. Premierministerin Theresa May hatte einst ähnliche Vorschläge gemacht, sie dann aber unter Druck aus der Wirtschaft zurückgezogen.
Nach der Abfuhr der EU steht May massiv unter Druck. Der britische „Telegraph“berichtete am Wochenende, die Regierungschefin müsse mit weiteren Rücktritten in ihrem Kabinett rechnen, falls sie nicht bis Montag einen „Plan B“vorlege. Die „Sunday Times“meldete dann – ohne klare Quelle –, Berater von May hätten mit der Notfallplanung für Neuwahlen im November begonnen. Auf diese Weise wolle May die Brexit-Verhandlungen und ihr eigenes Amt retten. Ein Regierungssprecher widersprach allerdings: „Das ist schlicht falsch.“Bereits im vergangenen Jahr hatte May Neuwahlen ausgerufen, um sich mehr Rückendeckung zu verschaffen. Der Plan ging jedoch daneben: Seitdem regiert sie nur noch mit hauchdünner Mehrheit.