Ein Hauch von Anarchie in der Union
Ralph Brinkhaus fängt in seiner ersten Sitzung als neuer Fraktionschef mit Veränderungen an. Kampfkandidaturen könnte es jetzt öfter geben.
BERLIN Es ist ein ungewohntes Bild. 13 Jahre lang hat Volker Kauder dienstags um 15 Uhr die große goldfarbene Glocke geläutet, damit die CDU- und CSU-Bundestagsabgeordneten sich hinsetzen und die Journalisten den Saal verlassen mögen. Nun steht dort neben Kanzlerin Angela Merkel der Westfale Ralph Brinkhaus, der den Baden-Württemberger Kauder vor zwei Wochen in einer Kampfkandidatur schlug. Der 50-jährige Erneuerer und Brückenbauer anstelle des 69-jährigen Bewahrers und Merkel-Vertrauten.
Es ist bereits nach drei Uhr, als Brinkhaus erstmals, fast ein wenig verschämt, aber doch lächelnd, die Glocke läutet. CSU-Chef Horst Seehofer ist diesmal auch da. Es soll über die Ergebnisse des Koalitionsausschusses aus der Vorwoche berichtet werden. Der Bundesinnenminister referiert über die Vereinbarungen zum Fachkräftezuwanderungsgesetz. Abgeordnete lassen nach draußen durchsickern, endlich werde mal wieder diskutiert. Die Leute trauten sich, etwas zu sagen. Als wären sie von Kauder unterjocht worden.
Der alte Chef wird nicht gesehen. Er trage schwer an diesem tiefen Fall, heißt es. Man werde sehen, ob und, wenn, wie er Bundestagsabgeordneter bleibe. Manche wünschen sich, er wäre jetzt da – um trotz allem ein Zeichen des Zusammenhalts zu setzen. Denn immerhin war er von fast der Hälfte der Abgeordneten gewählt worden.
Brinkhaus hat schon vor Sitzungsbeginn ein Signal der Veränderung gesendet: Die Tagesordnungen für die Sitzung sollen früher verschickt werden. Man glaubt es kaum, dass eine solche Formalie bereits als Aufbruch verstanden wird. Das wird aber eine der Hauptaufgaben der Fraktion unter Brinkhaus sein: Zuversicht nach außen versprühen, durch die mühseligen Koalitionsverhandlungen verlorenes Vertrauen zurückgewinnen. Zum Beispiel dadurch, dass sich die Abgeordneten öfter aus dem Hohen Haus hinausbewegen, um Botschaften vor Ort und nicht nur im Sitzungssaal zu platzieren, wie es heißt. Die Volksparteien seien in Gefahr. Sie müssten die Bürger wieder erreichen.
Brinkhaus gibt die Statements vor den Kameras auf der dritten Etage des Bundestags vor der Sitzung anders als Kauder nicht mehr allein, sondern mit einem seiner Stellvertreter. Es solle die Breite der Fraktion sichtbar werden, sagt er. Vize Her- mann Gröhe berichtet über die Verbesserungen im Rentensystem, die gleich Thema seien.
Interessanter sind aber die Wahlen an diesem Nachmittag. Brinkhaus’ bisheriger Posten als Stellvertreter muss nachbesetzt werden. Schon wieder eine Kampfkandidatur, die bei CSU und CDU so selten ist. Es weht ein Hauch von Anarchie durch die Union. Aus Proporzgründen soll die CDU-Landesgruppe aus Baden-Württemberg den Posten bekommen. Deren Chef Andreas Jung ist nominiert. Doch es gibt einen Gegenkandidaten aus Karlsruhe: den Finanzpolitiker Olav Gutting. Brinkhaus positioniert sich nicht. Die Fraktion sei frei in ihrer Entscheidung. Jung siegt, mit 76,7 Prozent.
Zur Wahl stehen am Dienstag noch die Parlamentarischen Geschäftsführer (PGF). Sie waren nach der Erschütterung durch die Abwahl Kauders vor zwei Wochen nicht angetreten. Inzwischen hat Brinkhaus sie motiviert zu bleiben. Bei allem Wunsch nach Veränderung will er Kontinuität erhalten.
So tritt der erste PGF Michael Grosse-Brömer wieder an, obwohl er sich zuvor klar für Kauder ausgesprochen hatte. „Stabilität im parlamentarischen Alltagsgeschäft ist wichtig“, sagt der Niedersachse und erzählt von einer offenen und klaren Aussprache mit Brinkhaus. „Das Vertrauen muss wachsen“, sagt er. Wegen der Verbundenheit zu Kauder hatte er sich auch Bedenkzeit erbeten. „Ich brauchte die berühmte Nacht, über die man schläft.“Er wird mit 87,9 Prozent wiedergewählt.