Im Iran gärt die Unzufriedenheit
Die Regierung lässt zu, dass etwas mehr Kritik an die Oberf läche kommt – vielleicht als eine Art Ventil. Aber hilft das?
TEHERAN (ap) Hardliner attackieren Präsident Hassan Ruhani wegen seines Atomabkommens mit dem Ausland, und seine Popularität sinkt. Protestierende Frauen nehmen auf den Straßen ihre vorgeschriebenen Kopftücher ab und filmen sich sogar selber dabei. Das Staatsfernsehen überträgt größere Korruptionsprozesse, die die Gemüter erregen. Es ist unübersehbar: Fast 40 Jahre nach der Islamischen Revolution lässt die Regierung etwas mehr offene Kritik zu, erlaubt, dass etwas mehr von dem verbreiteten Frust in der Bevölkerung an die Oberfläche kommt.
Vielleicht, so sagen Analysten, ermöglichen die Machthaber eine Art Ventil, nachdem das Land Anfang des Jahres von verbreiteten Protesten erschüttert worden ist. Aber ganz klar gibt es weiterhin scharfe Grenzen in Irans schiitischer Theokratie, was sich etwa in langen Gefängnisstrafen für Anwälte und Aktivisten widerspiegelt.
Es könnte auch sein, dass sich die Menschen auf längere Sicht nicht damit zufrieden geben, nur über ihre Situation zu klagen – vor allem dann, wenn die für November angekündigten US-Sanktionen gegen die Ölindustrie des Landes in Kraft getreten sind. „Wenn wir so weitermachen, wird die Lage komplizierter, denn die Menschen sind sehr müde und haben weniger Toleranz“, sagte Faeseh Haschemi, Aktivistin und Tochter des verstorbenen früheren Präsidenten Akbar Haschemi Rafsandschani. „Ich glaube nicht, dass die Mehrheit der Bevölkerung auf einen Regimewechsel aus ist, denn jeder sorgt sich, was dann kommen könnte. Aber die Menschen sind darauf aus, dass ihre Bedürfnisse befriedigt werden.“
Ruhani steht vor enormen Herausforderungen. Die USA unter Donald Trump sind aus seinem Atomabkommen mit mehreren Weltmächten ausgestiegen und ziehen in Sachen Sanktionen wieder die Schrauben an. Das, obwohl sich der Iran an seine vertraglichen Verpflichtungen – namentlich Beschränkung seiner Urananreicherung – eingehalten hat. Als Antwort hat Ruhani langsam seine Botschaft der Annäherung an den Westen durch harte Töne ersetzt, etwa Hinweisen auf Teherans Fähigkeit, die Straße von Hormus zu schließen, durch die ein Drittel des weltweit verschifften Öls transportiert wird.
Diese Rhetorik hat vielleicht auch etwas damit zu tun, dass Ruha- ni seine politische Zukunft absichern will. Der 69-Jährige, selber ein schiitischer Geistlicher, könnte als Nachfolger des derzeitigen obersten Führers Ajatollah Ali Chamenei in Betracht gezogen werden, wenn die Zeit dafür gekommen ist. „Von Ruhanis Perspektive aus ist es die wichtigste Sache, die Präsidentschaft unbeschadet zu überstehen und sich selber im Rennen um das allerhöchste Amt, die oberste Führung, zu halten“, formulierte es kürzlich Alex Vatanka, ein Analyst am Middle East Institute in Washington.
Aber leicht wird das nicht: Die öffentliche Verärgerung über Ruhani wächst weiter. Telefonumfragen von IranPoll, einem Unternehmen mit Sitz im kanadischen Toronto, zeigen derzeit nur magere Zustimmungswerte um die 20 Prozent für ihn – ein wahrer Absturz im Vergleich zu den 89 Prozent, auf die es Ruhani im August 2015 im Gefolge des Atomdeals gebracht hatte. Aber es gibt gleich mehrere Anzeichen dafür, dass die Regierung den wachsenden Unmut in der Bevölkerung erkannt hat.
So konnten Fernsehzuschauer in den vergangenen Wochen nicht nur Korruptionsprozesse mitverfolgen: Die Behörden erlaubten auch örtlichen Zeitungen in manchen Fällen eine etwas kritischere Berichterstattung – zum Beispiel über Mobiltelefon-Importeure, die ihre Privilegien
Straße von Hormus
Eine der wichtigsten Schifffahrtsrouten für Öltransporte
Iran bei der Verwendung ausländischer Währungen in ihren Handelsgeschäften missbrauchten. Auch waren in sozialen Medien Fotos von Kindern der iranischen Elite zu sehen, die einen Luxus genossen, von dem der Durchschnittsbürger im Land nur träumen kann. Alles Themen, bei denen Empörung hochkocht. „Solche Geschichten legen nahe, dass sich die islamische Republik vielleicht einer existenziellen Krise nähert, wo Kernwerte wie ein einfacher Lebensstil und die strikte Befolgung des Islam vom Establishment propagiert, aber von der Elite nicht zwangsläufig eingehalten werden“, meint Sara Bazoobandi, eine Expertin für politikwissenschaftliche und soziale Fragen in der Nahost-Region. „Die Scheinheiligkeit der Elite, die durch diese Skandale offensichtlich wurde, hat verbreiteten öffentlichen Zorn im Iran ausgelöst.“
Die sich verschlechternde Wirtschaftslage hatte im Dezember 2016 und Anfang Januar 2017 zu landesweiten Protesten mit mindestens 25 Todesopfern und fast 5000 Festnahmen geführt. Seit Trumps Aufkündigung des Atomabkommens im Mai ist es wirtschaftlich weiter bergab gegangen, und Ende September wurden bei einem Angriff arabischer Separatisten auf eine Militärparade mindestens 25 Menschen getötet. Derweil zeigt sich auf Teherans Straßen sozialer Wandel, sieht man junge Frauen, die ihr Kopftuch nur lose tragen oder ihn ganz auf ihre Schultern fallen lassen. Das Bild einer Iranerin, die sich während der Wirtschaftsproteste auf einen Telefonverteiler-Kasten stellte und ihren Schleier wie eine Fahne schwang, ging um die Welt. Haschemi meint, dass ein öffentliches Referendum über die Kopftuch-Vorschrift und andere Fragen wie eine Wiederherstellung der Beziehungen zu den USA helfen könnten, die Sorgen der Bevölkerung abzumildern.
Die Welt und die gesamte Lage hätten sich seit der Islamischen Revolution geändert, sagt die Iranerin, die selber wegen ihrer Aktivitäten im Gefängnis gesessen hat. „Die Leute haben einen Punkt erreicht, an dem sie nichts zu verlieren haben. Meistens hat man nur beim ersten Mal Angst vor Dingen, aber wenn sie passiert sind, fürchtet man sich nicht länger, man wird etwas mutiger, und man bringt seine Forderungen freier zum Ausdruck.“