Neue Mieter beim alten Johann Sebastian Bach
Klassik Immer wieder kehren sie zu ihm zurück, er ist das Alphabet der Musik, er hat die Grundlagen der Mathematik und Physik in die Tonkunst übertragen, und es ist so viel Geist, Spiritualität, Vielfältigkeit und Enthusiasmus in dieser Musik, dass man auch bei der 3728. Begegnung mit seinen großen Zyklen andächtig vor diesen Testamenten der Klangrede steht und sich eingestehen muss: Das hört niemals auf, und das ist auch gut so.
Die Rede ist natürlich von Johann Sebastian Bach. Es vergeht kein Monat, da nicht mindestens zwanzig, dreißig neue Platten erscheinen, auf denen seine Werke interpretiert werden. Es gilt also, die Spreu vom Weizen zu trennen und das Gute vom nur Mäßigen zu trennen. Eine Sensation ist die Einspielung beider Bände des kompletten „Wohltemperierten Klaviers“durch den 1976 in Lausanne geborenen Pianisten Cédric Pescia (beim Label La Dolce Volta). Der hat sich von sämtlichen Korsetten befreit und die langen Schatten der pianistischen Großmeister (Gould, Gulda, Richter) ignoriert. Das Ergebnis ist ein verblüffend in- dividueller Zugang zu diesen 48 Präludien und Fugen: spielfreudig, vehement in der Artikulation, wunderbar frisch, aber zugleich mit der Kraft der Versenkung. Eine wirklich starke Alternative!
Die famose, 1952 in Detroit geborene Bratschistin Kim Kashkashian hat sich voller Wagemut ins Sperrgebiet ihrer Zunft begeben und die sechs großartigen Suiten für Violoncello solo für die Viola transformiert (beim Label ECM). Sie ist nicht die erste Musikerin, die diesen Grenzübertritt riskiert – der vielmehr eine Art Anverwandlung ist –, aber ihr Spiel ist von einer hinreißenden Leidenschaft für die Materie Tanz gekennzeichnet, der ja das Impulsfeuer dieser Musik ist. Das schwingt und swingt, das tanzt und springt – und doch kehrt gerade in den langsamen Sätzen die Musik schier zu sich selbst zurück. Wolfram Goertz