Nie ohne die Betroffenen planen
Im Lehmbruck-Museum sprach der Migrationsforscher Mark Terkessidis über „neue Ideen für die Einwanderungsgesellschaft“. Er fordert einen „Vielheitsplan“, der auf 20 bis 25 Jahre angelegt ist.
Von Alfons Winterseel
Die deutsche Geschichte nach 1945 ist bis heute eine Geschichte von Fluchtbewegungen und Einwanderung: Rund zwölf Millionen Vertriebene kamen nach dem Krieg als Flüchtlinge in den Westen. In den 60er Jahren kamen nach den Anwerbe-Abkommen die Gastarbeiter, von denen die meisten blieben. In den Jahren von 1965 bis 2014, so zählt der Migrationsforscher Mark Terkessidis am Donnerstagabend bei seinem Vortrag im Lehmbruck-Museum auf, wanderten insgesamt 71 Millionen Menschen ein und aus. Lange ging - nicht nur - die Politik davon aus, dass die Gastarbeiter Deutschland wieder verlassen würden. „Eine Fiktion“, so der Wissenschaftler und Journalist und fordert ein Umdenken.
„Nach der Flucht. Neue Ideen für die Einwanderungsgesellschaft“ist der Titel seines Buchs, in dem er darüber nachdenkt, wie die tatsächliche Zusammensetzung der Gesellschaft in das Denken und Handeln aller Institutionen Einzug halten könnte. Denn: egal wo, der Migrationseinfluss sei da. In den industriellen Ballungsgebieten hätten bereits jetzt drei Viertel aller Kinder zumindest einen Elternteil, der eingewandert ist. Während auf dem Schulhof also 75 Prozent der Kinder einen Migrationshintergrund haben, spiegele sich dies im Lehrerzimmer nicht wider. Solche Widersprüche sieht Mark Terkessidis in vielen Bereichen. Beispielhaft: In Berlin habe es im Kinderchor einer Oper kein einziges Kind mit türkischem Migrationshintergrund gegeben. Als aber ein Aufruf gestartet wurde, meldeten sich 200, die gerne mitmachen wollten.
Terkessidis fordert einen „Vielheitsplan“, der auf 20 bis 25 Jahre angelegt ist: „Wir müssen die Vielheit unserer Gesellschaft akzeptieren, um sie zu gestalten.“Jede Einrichtung müsse ihn entwickeln, egal ob Museum, Krankenhaus, Polizei, Schulen oder ein Ortsverband beim Roten Kreuz. Anstatt einen langfristigen Plan zu verfolgen, werde oft nur in (Integrations-) Projekten gedacht, die auch „immer erfolgreich sind, weil sie sonst nicht weiter gefördert werden“. Besser sei es doch, eine neutrale Bewertung vorzunehmen, um aus Fehlern zu lernen und andere davor zu bewahren, die glei- chen Fehler zu machen. Falsch sei es auch, immer in Defiziten zu denken. Sonderklassen für Quereinsteiger nennt der Autor als Beispiel: Defizite ausgleichen, um dann so weiterzumachen wie bisher anstatt das System für die real existierende Viel- falt der Bevölkerung fit zu machen. Eine Vielfalt, von der der Wissenschaftler auch weiß, „dass sie nicht immer eine schöne Sache ist.“
In Berliner Kindertagesstätten und Grundschulen beobachtet Mark Terkessidis zwar ein ers- tes Umdenken, doch je höher man im Bildungssystem dann hinschaue, desto mehr nehme dieses Umdenken ab. Bei den Schulempfehlungen werde für Schüler mit Migrationshintergrund oft gegen den Besuch eines Gymnasiums entschieden. Der Autor beklagt, dass noch zu oft Konzepte entwickelt werden ohne mit den Betroffenen auf Augenhöhe zu sprechen und fordert analog zum Marketing, Produkte nicht ohne entsprechende Nachfragen bei der Zielgruppe auf den Markt zu bringen.
„Nach der Flucht. Neue Vorschläge für die Einwanderungsgesellschaft“ist bereits ist erschienen im Reclam-Verlag (79 Seiten). Mark Terkessidis hat Psychologie studiert und in Mainz zum Thema Rassismus promoviert. Er arbeitet als Migrationsforscher und freier Autor für diverse große Tages- und Wochenzeitungen. Überregionale Bekanntheit erlangte er durch Radiosendungen beim „Westdeutschen Rundfunk“, „Radio Bremen“und „DeutschlandFunk“. Mark Terkessidis ist Mitglied in der „Akademie der Künste der Welt“in Köln und seit 2012 Lehrbeauftragter an der Universität St. Gallen.