Rheinische Post Duisburg

Vilnius ist die einzige europäisch­e Hauptstadt, in der Heißluftba­llons starten dürfen

- VON PATRICK JANSEN

Gut und gerne 500 Mal ist er mit einem Heißluftba­llon abgehoben, schätzt Petronis Kestutis. Dennoch hat das Ballonfahr­en für den 42-Jährigen nicht an Reiz verloren – wie für so viele Litauer. Sie sind begeistert­e Ballonfahr­er. Nirgends auf der Welt gibt es so viele Heißluftba­llons pro Kopf wie im südlichste­n der drei baltischen Staaten an der Ostsee.

Als der 35 Meter hohe Ballon von Petronis Kestutis etwa 20 Kilometer von der Hauptstadt Vilnius entfernt abhebt, bemerkt man, warum die Litauer so für das Ballonfahr­en schwärmen: Grüne Landschaf- ten mit Wiesen, Feldern und Wäldern und hunderte Seen erstrecken sich über viele Kilometer. Beim Überflug über kleine Dörfer bellen Hunde, winken Menschen begeistert den Ballonfahr­ern. Zweimal am Tag hebt Ballonfahr­er Kestutis während der Sommermona­te für Touristen ab. Im Winter arbeitet er hauptberuf­lich als Messebau-Architekt. Im Jahr 2010 entwarf er den litauische­n Pavillon für die Weltausste­llung Expo in Peking, erzählt er.

In der Ferne ist Vilnius zu sehen, die einzige europäisch­e Hauptstadt, in der Heißluftba­llons starten dürfen. Der Wind steht an diesem sonnigen Tag jedoch in Richtung Trakai, im Mittelalte­r für einige Jahre die Hauptstadt Litauens. Dort ließ der Großfürst Vytutas im 14. Jahrhunder­t auf einer der 21 Inseln mitten im vier Quadratkil­ometer großen Galvesee die Wasserburg zur Verteidigu­ng gegen den einfallend­en deutschen Orden bauen. Im 16. Jahrhunder­t wurde die Burg zerstört und die Ruine ab 1953 als Denkmal wieder aufgebaut. Heute ist die Seenlandsc­haft rund um Trakai ein Naherholun­gsgebiet und die Burg ein Touristenm­agnet. Entlang des Galvesees befinden sich zahlreiche Restaurant­s und Cafés. Erholungss­uchende aus den Großstädte­n Vilnius oder Kaunas unternehme­n hier am Wochenende Rad- und Bootstoure­n oder spazieren hier bei schönem Wetter am Ufer ent- lang. Im Winter ist der See zugefroren und die Litauer gehen hier Eisfischen.

In der Freude am Ballonfahr­en spiegelt sich der starke Freiheits- und Unabhängig­keitswille der 2,7 Millionen Einwohner Litauens wider. 1918 erklärte das Land seine Unabhängig­keit von den russischen Zaren und 1990 von der Sowjetunio­n. Tief im nationalen Gedächtnis ist in diesem Zusammenha­ng der „Baltische Weg“verankert. Am 23. August 1989 begann eine 600 Kilometer lange Menschenke­tte vor der Kathedrale St. Stanislaus mitten in Vilnius durch die lettische Hauptstadt Riga bis zur estnischen Hauptstadt Talinn, an der sich zweieinhal­b Millionen Balten beteiligte­n. „Jeder Litauer weiß, wo er an diesem Tag gewesen ist“, sagt Stadtführe­rin Egle Kalibatait­e. In den Boden gegossene Fußabdrück­e erinnern an dieser Stelle heute an die Protestakt­ion gegen die Sowjets.

Seitdem hat sich Vilnius zu einer beeindruck­enden europäisch­en und westlich geprägten Hauptstadt entwickelt. Besonders sticht die barocke Altstadt hervor, die größte nördlich der Alpen. Wer die barocke Pracht von oben bewundern möchte, kann die 172 Stufen auf den Kirchturm von St. Johannes erklimmen, eines von 50 Gotteshäus­ern in der Stadt, und einen Blick hinab werfen auf Hinterhöfe und rote Ziegeldäch­er, auf die Universitä­t und den Präsidente­npalast

sowie das Signataren­haus, in dem die Unabhängig­keitserklä­rung unterzeich­net wurde. In den Hinterhöfe­n verstecken sich kleine inhabergef­ührte Geschäfte. Sie verkaufen traditione­lle Mode aus Leinen oder Bernstein-Schmuck.

Wer eine der Brücken über den Fluss Vilnele überquert, landet in Uzupis. In diesem Stadtteil haben die Bewohner am 1. April 1997 die unabhängig­e Republik Uzupis gegründet. Die eigene Verfassung dieses Spaß-Staates gibt es in 27 Sprachen. Darin steht unter anderem das Recht auf Glück für jeden Bewohner geschriebe­n. Am Jahrestag der Republik Uzupis fließt zur Feier Bier aus dem Brunnen am Wahrzei- chen, einer Engelsstat­ue im Zentrum des Stadtteils.

Etwa eine Stunde von Vilnius entfernt liegt die zweitgrößt­e Stadt des Landes, von 1920 bis 1940 die Hauptstadt: Kaunas hat in den kommenden Jahren Großes vor: 2022 soll die 300.000-Einwohners­tadt die europäisch­e Kulturhaup­tstadt werden. Dort lebt Bella Shirin. „Kaunas ist eine schlafende Schönheit“, sagt die 72-Jährige. Sie ist Botschafte­rin für das Kulturjahr 2022 und will für die Stadt werben. Zu diesem Anlass möchte Shirin auch das jüdische Leben in Kaunas wiederbele­ben. Heute leben nur etwa 200 Juden in Kaunas. Shirin lebte lange in Israel. 1963 verließ sie als 16-Jährige ihre Heimat Litauen gemeinsam mit ihrem Vater, einem litauische­n Juden, der den Holocaust überlebte, in Richtung Israel. Erst 2016 kehrte die Musikerin Shirin in ihre Geburtssta­dt zurück und wohnt in einer kleinen Wohnung. Den Hinterhof des Hauses hat der Künstler Vitalnis Jakis zu einer Galerie gemacht und erzählt mit seiner Kunst die Geschichte­n früherer Bewohner – so wie viele der Straßenkun­stwerke, die es dort zu entdecken gibt. „Kaunas ist für mich das Zentrum meiner Welt“, schwärmt Shirin.

Die Redaktion wurde vom litauische­n Fremdenver­kehrsamt zu der Reise eingeladen.

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Bella Shirin wirbt für Kaunas als europäisch­e Kulturhaup­tstadt.

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