Rheinische Post Duisburg

Der Wald als Medizin

Immer mehr Menschen setzen auf die Heilkräfte der Natur. So bieten Ranger des Landesbetr­iebs Wald und Holz regelmäßig­es „Waldbaden“an – geführte Wanderunge­n mit therapeuti­schem Effekt. Der Erfolg ist enorm.

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VON JÖRG ISRINGHAUS

NEUHAUS Goldenes Herbstlich­t schimmert durch die Äste, der Wind rauscht in den Wipfeln, in der Luft hängt frischer Fichten-Duft. Ein paar Atemzüge nur, und der Körper entspannt sich. Schon bald möchte man abtauchen in dieses Wohlgefühl, mit allen Sinnen die Natur genießen, sie auf sich wirken lassen. Japanische Ärzte haben dafür einen Begriff geprägt: „Shinrin Yoku“– Waldbaden. Der Wald als Medizin? Klar, sagt Oliver Szodruch. Seit Jahren schon war der Ranger des Landesbetr­iebs Wald und Holz NRW nicht mehr erkältet, genauso wie seine Kollegen. Ihre Therapie: Täglich im Grünen unterwegs zu sein. Nebenwirku­ngen: Keine – abgesehen vielleicht von durchgelau­fenen Wanderstie­feln.

„Die Patienten sind nicht nur begeistert, ihr Blutdruck geht

auch runter“

Dieter Rurainski Physiother­apeut

Seit zwei Jahren bringen Szodruch und seine Kollegen bereits Menschen in den Wald, um sie dessen heilsame Kräfte spüren zu lassen. Mit Patienten der Dr. Becker Klinik, die sich auf die Behandlung psychosoma­tischer Leiden spezialisi­ert hat, führt die Tour an diesem Tag am Möhnesee ins Grüne. Erste Lektion: Im Wald wird geduzt. Locker machen lautet Szodruchs Devise, denn die Wanderung soll kein Wettbewerb sein, sondern eine Übung in Achtsamkei­t, eine Kur für alle Sinne. Es geht darum, den Wald zu fühlen, zu riechen und zu schmecken. Szodruch verteilt Zweige von einem Nadelbaum. „Zerreibt die Nadeln zwischen den Fingern und schnuppert mal“, sagt er. Duftet nach Zitrusfrüc­hten. „Douglasie“, erklärt er, „das Parfüm des Waldes.“

Aber nicht nur das. Bäume stoßen chemische Verbindung­en aus, um miteinande­r zu interagier­en. Mit diesen sogenannte­n Terpenen warnen sie sich beispielsw­eise vor Schädlinge­n und fahren ihr Immunsyste­m hoch. Forscher der Nippon Medical School in Tokio haben herausgefu­nden, dass auch Menschen auf diese Terpene reagieren und mehr weiße Blutkörper­chen bilden, sogenannte Killerzell­en, die Keime und körpereige­ne Krebszelle­n bekämpfen. Ein Spaziergan­g im Wald ist also nicht nur Aromathera­pie, sondern belebt auch das Immunsyste­m. Anhaltend, wie Szodruch erklärt. Mehrere Stunden in der Natur stärken tagelang die Ge- sundheit. „Unter anderem deshalb sind Ranger auch so selten krank“, sagt Szodruch.

Bereits 1980 konnte der schwedisch­e Arzt Roger Ulrich wissenscha­ftlich belegen, dass schon der Anblick eines Baumes durch ein Krankenhau­s-Fenster die Heilung eines Patienten beschleuni­gt. Welche Wirkung kann da erst ein Spaziergan­g durch den Wald entfalten? Szodruch hält sich da mit Spekulatio­nen zurück, er ist weder Wunderheil­er noch Schamane, sondern ein geerdeter Forstwirts­chaftsmeis­ter, der seinen Gästen nur den Anstoß geben möchte, sich auf die Kräfte der Natur einzulasse­n. Ihnen zum Beispiel empfiehlt, im Bach zu kneippen, um die Durchblutu­ng anzuregen. „Wärmer als 18 Grad darf das Wasser aber nicht sein“, sagt er. Und nebenbei erklärt, dass das Kiesufer auch als Gold des Baches bezeichnet wird.

Gerade auf solche Details kommt es Szodruch an, weil sie die Natur entschlüss­eln, sie erfahrbar machen. Dass ein Wildschwei­n nach Maggi riecht zum Beispiel, wo sich das Sikawild versteckt und wie sich Fichten von Tannen unterschei­den. Etwa auf halber Strecke gilt es, sich unter turmhohen Buchen einen Ruheplatz zu suchen, am Stamm oder auf einem Stumpf, jeder für sich. Den Wald auf sich wirken zu lassen, dem Wind zu lauschen und dem Plätschern des Baches. Untersuchu­ngen haben ergeben, dass dies den Parasympat­ikus aktiviert, den Ruhenerv, der auch für die Ausschüttu­ng von Stresshorm­onen wie Cortisol verantwort­lich ist. So konnte durch Studien in Japan nachgewies­en werden, dass Waldspazie­rgänge den Cortisol-Spiegel um 12,5 Prozent senken. Szodruch erzählt, dass er sich schon früher in Pausen gerne einen Baumstamm gesucht habe, um dort angelehnt ein Nickerchen zu halten. Weil er sich hinterher immer sehr erfrischt fühlte. „Das sind die Momente, von denen ich zehre“, sagt er.

Weiter geht‘s, dank Ranger-Begleitung auch abseits der Pfade. Wir besuchen eine 250 Jahre alte Eiche mit ausladende­r Krone, die als Solitär auf einer Lichtung steht, als sei sie einem Gemälde von Caspar David Friedrich entsprunge­n. Es geht darum, die Energie des Baumes zu spüren. Oder einfach nur den Anblick zu genießen. Effekte treten so oder so auf: So schüttet unser Körper im Grünen vermehrt das Hormon DHEA aus. Es wird in der Nebenniere­nrinde produziert und schützt Herz und Gefäße.

Unbeeindru­ckt lässt die imposante Eiche auf jeden Fall niemanden zurück. Genausowen­ig wie das gesamte Waldbaden. Einen absoluten Gewinn für die Behandlung psychosoma­tischer Leiden nennt es Physiother­apeut Dieter Rurainski, der die Gruppe begleitet. „Die Patienten sind nicht nur begeistert, sie schlafen auch besser und ihr Blutdruck geht runter“, sagt Rurainski. „Und die meisten wollen das Naturerleb­nis danach vertiefen.“

Wenn es nach der Klinik ginge, würden die geführten Wanderunge­n noch häufiger stattfinde­n. Aber Szodruch und seine Kollegen sind bereits hart am Limit, arbeiten daran, das Angebot im nächsten Jahr auszubauen. „Schließlic­h möchten wir, dass so viele Menschen wie möglich von den Kräften des Waldes profitiere­n“, sagt der Ranger. Das geht übrigens ganz gut auch ohne Profi: Einfach Wanderschu­he anziehen und ab ins Grüne.

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FOTOS: JIS Zum Waldbaden gehört es auch, sich ganz entspannt auf die Natur einzulasse­n – wie hier bei der Wanderung am Möhnesee.
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Ranger Oliver Szodruch versucht, den Wald spürbar zu machen.

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