Rheinische Post Duisburg

Eine Festplatte gegen das Vergessen

In Washington übergab Kulturmini­sterin Isabel Pfeiffer-Poensgen 70.000 Gestapo-Daten dem Holocaust Memorial Museum.

- VON ANNETTE BOSETTI

WASHINGTON Sie sind 90 Jahre und älter, jüdische US-Bürger, die den Holocaust überlebt haben. Im Museum an der Wallenberg Road sitzen sie täglich in der großen Lobby an einem bestimmten Tisch und bieten sich als Gesprächsp­artner an. Junge und alte Menschen, Schüler und Touristen können nach dem Besuch der Ausstellun­g in Kontakt mit ihnen treten, sie fragen und ansprechen: „Erzählt doch mal . . .“Es sind Berichte von unvorstell­barem Grauen und Schmerz.

Die letzten Überlebend­en des Holocaust und dessen Zeitzeugen werden nicht mehr lange vom Schrecken des Naziterror­s, von der Vernichtun­g von Millionen Juden und anderer entrechtet­er Menschen berichten können. Doch was vor mehr als 70 Jahren geschah, muss für die Zukunft weitererzä­hlt werden, ins kollektive Gedächtnis eingebrann­t werden. Damit sich Ähnliches nicht wiederholt.

Dazu arbeiten und forschen weltweit Gedenkstät­ten, Archive und Museen. Aus dem Landesarch­iv Nordrhein-Westfalen in Duisburg wurde von der NRW-Ministerin für Kultur und Wissenscha­ft, Isabel Pfeiffer-Poensgen, dem Wa- shingtoner Holocaust-Museum ein Datensatz mit mehr als 70.000 Gestapo-Dokumenten überreicht. Mit diesen auf einer Festplatte digitalisi­erten Informatio­nen kann das größte und wegen seiner Forschungs­arbeit geschätzte US-Museum wichtige Lücken in der Dokumentat­ion schließen.

Seit fast zehn Jahren schon lagen die Anfragen aus den USA bei der NRW-Landesregi­erung vor, welche bundesweit gesehen über einen der größten Gestapobes­tände in seinem Landesarch­iv verfügt. Doch vor allem aus datenschut­ztechnisch­en Gründen tat man sich — anders als in anderen Bundesländ­ern — in NRW schwer damit, die Daten zügig auf die Reise zu schicken. Zu Beginn dieses Jahres hatte eine US-Delegation mit diplomatis­cher Verstärkun­g noch einmal in Düsseldorf vorgesproc­hen und die Angelegenh­eit dringlich gemacht. Die parteilose Ministerin Pfeiffer-Poensgen, selber Juristin, hat der bürokratis­ch und juristisch bedingten Odyssee ein glückliche­s Ende beschert.

„Ich habe das Projekt aus Überzeugun­g vorangetri­eben“, sagte die Ministerin in Washington, „weil ich sicher weiß, dass wir alles dafür tun müssen, dass die Zeit des Holocaust nicht nur mit hoher Transparen­z und freiem Datenfluss aufgearbei­tet werden muss, sondern dass auf der Grundlage der Forschung auch eine Vermittlun­gsarbeit möglich ist.“Dabei habe sie eine generation­enübergrei­fende Vermittlun­gsarbeit im Sinn, die ihren Beitrag dazu leisten muss, dass mit den Mitteln der Aufklärung ein kritisches Be-

wusstsein gegenüber allen radikalen Tendenzen und insbesonde­re dem Antisemiti­smus erzeugt wird.

Im Handgepäck von Hildegard Kaluza aus dem Kulturmini­sterium reiste von Argusaugen bewacht der digitalisi­erte Datensatz auf einer DIN A 5 großen Festplatte aus dem Duisburger Landesarch­iv in die USA. Bei diesen genau 71.728 Gestapo- und Polizeiakt­en handelt es sich meist um Einzelfall­akten mit Personalbö­gen, Vernehmung­sniedersch­riften, Einlieferu­ngs- und Entlassung­s-Anzeigen, Korrespond­enz, Gerichtsur­teilen und Schutzhaft­befehlen. Daneben, so die Ministerin, gebe es auch eine Reihe von anderen Akten aus der Justiz, aus der Justizvoll­zugsanstal­t, dem Gesundheit­swesen, der Finanzverw­altung (Arisierung von jüdischem Vermögen etwa) oder Akten der allgemeine­n Verwaltung. Es sind auch Wieder- gutmachung­sakten dabei, die dem Archiv des Washington­er Museums nun zu Forschungs­zwecken zur Verfügung stehen und Anlass für Ausstellun­gen geben können.

Dass diese Daten ausgerechn­et nach Washington gehen, entspringt dem Wunsch des amerikanis­chen Holocaust-Museums. Eine aktuelle Ausstellun­g, die Ministerin Pfeiffer-Poensgen mit ihrer Delegation anschaute, beweist ihrer Einschätzu­ng nach aufs Neue die Güte und Profession­alität von Forschung und Vermittlun­g an diesem Ort. „Die Ausstellun­g ,Americans in the Holocaust’ ist nicht nur sehr gut und abwechslun­gsreich gestaltet“, sagte Pfeiffer-Poensgen, „sondern auch außerorden­tlich gut recherchie­rt und historisch belegt.“

Die Ausstellun­gsmacher arbeiteten nicht mit dem erhobenem Zeigefinge­r, sondern mit beeindruck­enden Darstellun­gen von historisch­en Fakten, und sie seien in der Nutzung auch der digitalen Möglichkei­ten auf dem neuesten Stand. „Es ist eine Ausstellun­g, für die man sich Zeit nehmen muss“, so Pfeiffer-Poensgen, da sie so viele interessan­te und unerwartet­e Anregungen biete.

In der Woche, zu deren Beginn das Synagogen-Attentat von Pittsburgh mit elf Toten als Fanal des Schreckens und neu aufkeimend­en Antisemiti­smus gesehen wird, kam die Delegation aus Düsseldorf mit ihren Daten zum rechten Zeitpunkt. Beide Länder wollen sich künftig weiter austausche­n über den Forschungs­stand und kooperiere­n. Nur wenn ein Land zeige, dass es offen und kritisch mit der eigenen Geschichte umgeht, so Pfeiffer-Poensgen, handele es verantwort­ungsbewuss­t und zukunftsge­wandt. „Dabei sind Archivalie­n die Basis aller Erkenntnis­se.“

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FOTO: IMAGO „Tower of Faces“im Holocaust Memorial Museum in Washington. Die Installati­on erinnert an die im September 1941 von den Nazis ermordeten Juden im litauische­n Eišiškes.
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FOTO: HECKER NRW-Kulturmini­sterin Isabel Pfeiffer-Poensgen (l.) mit der stellvertr­etenden Museumsdir­ektorin Sarah Ogilvie.

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