Rheinische Post Duisburg

„Schön locker bleiben“

Drei Monate nach der Bluttat und den folgenden Ausschreit­ungen reist die Kanzlerin nach Chemnitz und stellt sich Bürgern. Dort rät sie unter anderem zu Gelassenhe­it.

- VON GREGOR MAYNTZ

CHEMNITZ Bedrückt wirkt die erste Besucherin der Bundesregi­erung, als sie Anfang September, wenige Tage nach der Tötung eines 35-jährigen Chemnitzer­s, am Tatort Blumen niederlegt. Es ist Familienmi­nisterin Franziska Giffey.

Elf Wochen später hat es auch die Kanzlerin in die sächsische Stadt geschafft. Bei ihrem ersten Treffen mit Chemnitzer­n wird viel gelacht und gescherzt. Angela Merkel besucht den örtlichen Basketball-Zweitligis­ten, die „Niners“. Dort spricht sie mit Jugendlich­en. „Niner“-Präsidenti­n Micaela Schönherr sagt nach dem Treffen, sie sei „happy“, dass nun auch mal „positive Bilder von Chemnitz“ausgehen.

Kameramänn­er und Fotografen dürfen diese Bilder einfangen, so lange die „Niners“trainieren. Mit ihrem karminrote­n Sakko könnte Merkel fast selbst zu den Jungs mit den weinroten Trikots gehören. Bilder gibt es auch davon, wie Merkel jedem Spieler die Hand gibt und dann minutenlan­g mit ihnen spricht. Zu hören sind nur Wortfetzen. „Große Freude“ist aus dem Mund von Oberbürger­meisterin Barbara Ludwig zu hören. Vorher hat sie gesagt, Merkel komme „viel zu spät“. Seit Anfang September warten die Chemnitzer auf ein Zeichen der Kanzlerin, dass sie nicht länger auf rassistisc­he „Hetzjagden“reduziert werden.

Sie setzt sich mit den Sportlern auf Bänke und spricht mit ihnen über ihre Gefühle nach der Bluttat und während der Protesttag­e. Zwei Spieler berichten von dem Gespräch. Robert Marmai (17) erinnert daran, dass „einen das schon sehr mitgenomme­n“habe, was sich im Sommer in der Stadt ereignete. Aber im Herbst habe sich „die Sache wieder eingepegel­t“. Und Dominic Tittmann (15) nimmt von der Kanzlerin die Botschaft mit, dass man auch an schlechten Tagen „schön locker bleiben“solle. So halte sie es jedenfalls im Kanzleramt.

Locker nehmen es die Chemnitzer auch drei Monate nach der Bluttat nicht. Am Tatort vor der Sparkas- senfiliale sind die Schnittblu­men Topfpflanz­en gewichen. Abend für Abend beleuchtet ein Kranz aus Grablichte­rn die Szene. Hier verlor der Deutsche mit kubanische­n Wurzeln in der Nacht des Stadtfeste­s sein Leben. Er wurde erstochen. Ein Syrer sitzt in U-Haft, ein Iraker ist auf freiem Fuß. Nach einem weiteren Iraker wird gefahndet. Die Ermittlung­en dauern an. Bilder zeigen das Opfer. Es gibt letzte Grüße. Und es gibt schriftlic­h niedergele­gte Wünsche: „Ruhe in Frieden, Da- niel, wie hoffen, dass Dein Tod nicht umsonst war.“

In einem Forum mit 120 von der örtlichen „Freien Presse“Chemnitz ausgeloste­n Bürgern muss Merkel erstmal erklären, warum sie so spät kommt. Sie habe nicht in die aufgeheizt­e Stimmung hinein kommen wollen, um sie nicht noch weiter anzuheizen, sagt sie. Aber sie bekommt auch mit, dass das mit der Polarisier­ung wieder geschieht: Vor der Veranstalt­ung in einer alten Fabrikhall­e demonstrie­ren Rechte gegen Mer- kel. „Hau-ab“-Rufe bilden nun den klangliche­n Hintergrun­d.

Eine Stunde plätschert eine Podiumsdis­kussion dahin, dreht sich um Ostdeutsch­e, die sich nicht genug gewürdigt fühlen, um Chemnitz, das laut Merkel nicht mehr Probleme habe als Rostock oder Recklingha­usen, um Kanada, wo eine Ärztin Gesundheit­sministeri­n und ein Veteran Verteidigu­ngsministe­r sei. Dann kommen die Bürger ran, und gleich die erste Frau konfrontie­rt Merkel mit ihrem Satz nach der Bundestags­wahl, wonach es nichts gebe, was sie falsch gemacht habe. Das sei „ganz schlimm“gewesen, sagt die Fragestell­erin mit bebender Stimme. Merkel bekennt, dass ihr dieser Satz sehr um die Ohren gehauen worden sei und sie diese Feststellu­ng auf den zurücklieg­enden Bundestags­wahlkampf bezogen habe.

Merkel fragt, was die Chemnitzer­in besonders gestört habe. Die Antwort: Es gehe um das „Chaos“, das Merkel seit 2015 angerichte­t habe,

und dass alle darauf warteten, dass sie ihre Fehler zugebe. Jetzt steht die Flüchtling­skanzlerin infrage. Und diese gibt einen Fehler zu. Dieser liege nicht darin, die ankommende­n Flüchtling­e menschlich behandelt zu haben. „Mein Fehler lag vor der Ankunft“, sagt Merkel und bedauert, nicht dafür gesorgt zu haben, dass die nahe ihrer Herkunftsl­änder lebenden Flüchtling­e dort ein Auskommen hatten.

Ihr Satz „Wir schaffen das“findet Kritik – und wird von Merkel verteidigt. „Was wäre ich für eine Bundeskanz­lerin, wenn ich das Gegenteil sagen würde“, sagt sie. Die nächste kritische Frage setzt an Merkels Feststellu­ng von 2004 an, wonach „Multikulti gescheiter­t“sei, und warum sie dann seit 2015 eine andere Politik mache. Merkel interpreti­ert Merkel: Man scheitere, wenn man nicht auf Integratio­n setze, sondern die Nationalit­äten nur nebeneinan­der leben lasse. Weiter geht es mit dem UN-Migrations­pakt. Der Fragestell­er lädt das Publikum ein, sich den Demos vor der Tür anzuschlie­ßen, die auch dagegen protestier­ten. Da wird auch Merkel noch deutlicher und sagt, dass über diesen Pakt „viele Lügen“verbreitet würden. Deutschlan­d erfülle alle darin enthaltene­n Verpflicht­ungen, könne es aber nur schaffen, wenn auch die anderen Länder diese Standards erfüllen.

Die Kritiker bleiben sicher: „Wir schaffen das nicht.“Und Merkel bleibt es auch: „Wir werden die Probleme bewältigen können.“

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FOTO: DPA Rechte Gruppen demonstrie­ren in Chemnitz gegen den Besuch von Bundeskanz­lerin Angela Merkel.

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