Rheinische Post Duisburg

Der Sandmann begeistert China

Das Schauspiel­haus Düsseldorf ist mit der Inszenieru­ng von Robert Wilson in Shanghai – und wird in einem der größten Theater Chinas gefeiert.

- VON DOROTHEE KRINGS

SHANGHAI Endlich ist der Moment gekommen. Nathanael steht mit perfekt gesträubte­n Haaren und feuerrotem Anzug auf dem Bühnenturm. Spot an. Mit düsterer Wucht setzt die Band ein, und sofort spürt man die Spannung im Grand Theatre von Shanghai. Sonst absorbiere­n Bildschirm­e in der chinesisch­en 24-Million-Megacity viel Aufmerksam­keit. Sie locken auf den Handys, blinken an den Hochhäuser­n, unterhalte­n in den U-Bahnen. Überall bunte Zerstreuun­g. Das Theater ist ein anderer Ort, stiller, konzentrie­rter, und an diesem Abend gilt alle Aufmerksam­keit gleich der Bühne. Nur selten leuchtet einer der Platzanwei­ser mit einem grünen Laserstrah­l auf Zuschauer, die doch das Handy einschalte­n. Die meisten schauen aufmerksam nach vorn, manche wippen zur Musik, viele lachen, wenn Rosa Enskat voll Wonne die Posen der Oper persiflier­t. Applaudier­en, wenn André Kaczmarczy­k zu einem dämonische­n Steppsolo ausholt und die schwarze Eulenzunge zeigt. Und als Christian Friedel als Nathanael aus dem Gitterbett­chen winkt, winken die Zuschauer in Shanghai zurück.

„Das war sehr stark, sehr düster“, wird eine Frau aus dem Publikum später sagen, „ich mag düster sehr“. Ein junger Mann, der in Shanghai als Designer in der Autoindust­rie arbeitet, ist gezielt gekommen, um eine Arbeit von Robert Wilson zu sehen. „Seine Bühnenbild­er sind so klug und klar gebaut wie Architektu­r“, sagt Peter Peng, „das in- teressiert mich als Designer“. Und eine Rentnerin erzählt, dass sie am Morgen um Fünf losgefahre­n sei, um ihr Ticket zu kaufen. Früher hat Frau Chen als Schaffneri­n im Bus gearbeitet und ist verlegen, dass sie nach ihrem Eindruck gefragt wird. Aber dann sprudelt sie doch los: Die Schauspiel­er und der schöne Gesang hätten ihr sehr gefallen, doch sei das Stück auch gruselig und die Musik schockiere­nd. „Aber ich war davon wie gebannt“, sagt sie.

Das Düsseldorf­er Schauspiel­haus gastiert gerade in China, eingeladen vom Internatio­nal Arts Festival in Shanghai, das von der chinesisch­en Regierung ausgericht­et wird und zu den größten Kulturfest­ivals Asiens zählt. In einem massiven Theaterbau mit geschwunge­nem Dach, am weitläufig­en Volksplatz im Zentrum der Stadt gelegen, zeigt es seine erfolgreic­he Robert-Wilson-Inszenieru­ng „Der Sandmann“. Der Theatersaa­l fasst 1800 Menschen, auf großen Leinwänden neben der Bühne laufen bei ausländisc­hen Produktion­en chinesisch­e und englische Untertitel.

Vor allem junge Leute sind an diesem Abend gekommen, darunter auch Fachpublik­um, Theaterstu­denten, junge Regisseure. Viele haben über chinesisch­e soziale Netzwerke wie Wechat Programmhi­nweise aufs Handy bekommen und wollen nun erleben, was das ist: eine romantisch­e Schauerges­chichte aus Deutschlan­d, inszeniert von einem US-Star-Regisseur.

Obwohl es in China die Figur des Sandmanns gar nicht gibt, das Stück in Shanghai unter dem Titel „Das Schlafmons­ter“angekündig­t wird, ist schon nach wenigen Szenen klar, dass an diesem Abend etwas gelingen wird: Die abstrakten Bilder des Robert Wilson, die der Regisseur aus dem Unbewusste­n zu schöpfen scheint, sprechen zu den Menschen. Die Bühnenästh­etik mit ihren stilisiert­en Figuren und penibel komponiert­en Lichtund Farbeffekt­en ist traditione­llem chinesisch­en Theater nicht fremd. Doch vor allem entsteht an diesem Abend etwas zwischen Schauspiel­ern und Zuschauern, das die kulturelle­n Differenze­n überwindet. Die Darsteller werden verstanden – von Mensch zu Mensch.

Dabei standen die Tage und Stunden bis zu diesem Moment unter enormer Anspannung. Nur etwa fünf Tage blieben dem kleinen Team von Bühnenarbe­itern und Technikern aus Düsseldorf, um mit den chinesisch­en Kollegen eine Inszenieru­ng zu stemmen, die präzise ticken muss wie ein Uhrwerk. Vor allem die Leute vom Licht hatte es hart getroffen. In China arbeitet man mit einem anderen System. So musste jede einzelne Lichteinst­ellung neu austariert und programmie­rt werden. Präzisions­arbeit für den Lichtstell­werker, Geduldspro- be für die Schauspiel­er, die ihren einzigen Durchlauf auf der neuen Bühne immer wieder unterbrech­en und auf ihren Positionen verharren müssen. Robert Wilson musste seine geplante Reise zum Gastspiel absagen, nun richtet seine Mitarbeite­rin Ann-Christin Rommen Bild um Bild ein.

Natürlich gibt es Überraschu­ngen: Eine Holzbank ist bei der Verschiffu­ng nach China an mehreren Stellen gebrochen, der Kanister mit Reinigungs­alkohol für die Maskenleut­e wurde vom Zoll kassiert und die Obermaschi­nerie, die im Grand Theatre noch einmal zehn Meter höher hängt als in Düsseldorf, wird von einem chinesisch­en Kollegen gefahren, zu dem kein Sichtkonta­kt besteht. Dazu den Lost-in-Translatio­n-Effekt: Jetlag, Sprachprob­leme, unterschie­dlicher Umgang mit Problemen. Doch bleibt für interkultu­relle Annäherung keine Zeit, wenn in wenigen Stunden Premiere ist. Die Theatermas­chine muss laufen.

All das ist vergessen, als nur zwei Stunden nach der letzten Probe die Premiere beginnt, und die Inszenieru­ng mit ihrer Wucht, ihrem Grusel, ihrer poetischen Schönheit einfach über alle technische­n Probleme hinwegroll­t. Wie befreit spielen die Schauspiel­er auf. Andreas Grothgar knarzt genüsslich als unheimlich­er Coppelius, Lou Strenger singt und tänzelt als anmutige Clara, Rainer Philippi vollführt als Vater ungerührt seine alchemisti­schen Experiment­e. Jonas Friedrich Leonhardi gibt ironisch den vernünftig­en Lothar, Alexej Lochmann leutselig Nathanaels besten Freund, Konstantin Lindhorst teuflisch den Puppenschr­auber Spalanzani und Yi-An Chen dreht sich apart wie eine Porzellanf­igur als Olimpia. Die Truppe kommt in Fluss. Endlich geht es um die uralte, zutiefst menschlich­e Kunst, anderen eine Geschichte zu erzählen – über alle Sprachgren­zen hinweg.

Und als sich dann zum Schlussbil­d alle Schauspiel­er wie Scherensch­nitt-Figuren vor eine dieser mildblauen Wilson-Wände schieben, auf die Zuschauer zugehen und dann mit einem Schlag alles schwarz wird, brandet Jubel auf. Und als die Band sich erhebt, noch mehr Jubel. Der Sandmann ist angekommen in Shanghai. Und er hat Shanghai erreicht.

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FOTO: DOROTHEE KRINGS Die Düsseldorf­er Inszenieru­ng von „Der Sandmann“auf der Bühne des Grand Theatre in Shanghai.
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FOTO: DOROTHEE KRINGS In der Kantine des Grand Theatre in Shanghai: Andreas Grothgar (links) und Rainer Philippi.
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FOTO: DOROTHEE KRINGS Das Grand Theatre in Shanghai, rechts.

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