Rheinische Post Duisburg

Die Aufdringli­chen

Das Spiel gegen Russland nutzt Joachim Löw als Bühne für die jungen Spieler. Doch eine radikale Verjüngung ist nicht vorgesehen.

- VON ROBERT PETERS

LEIPZIG Stanislaw Salamowits­ch Tschertsch­essow kann ein richtiger Scherzbold sein. Das wissen die Fußballfan­s in Sachsen, seit er in den frühen 1990er Jahren bei Dynamo Dresden im Tor stand. Die große, weite Fußballwel­t weiß es spätestens seit der WM. Da führte er als verschmitz­ter Trainer Ausrichter Russland ins Viertelfin­ale. Und obwohl er beim 0:3 im Testspiel gegen Deutschlan­d in Leipzig nicht so viel zu lachen hatte, betrieb er ein bisschen Imagepfleg­e. Als man ihm sagte, dass ein Flitzer, der kurz vor dem Ende mit einer russischen Fahne auf den Platz gelaufen war, vor einem deutschen Spieler niedergekn­iet sei, erklärte Tschertsch­essow: „Hoffentlic­h hat er ihm keinen Heiratsant­rag gemacht.“

Darüber ist nichts bekannt geworden. Sicher aber ist, dass der Flitzer vor Manuel Neuer auf die Knie fiel und anschließe­nd noch mal vor den Ordnern, die ihn mit einem gekonnten Tackling zu Boden brachten. Vielleicht wollte der Mann dem ältesten deutschen Spieler jene Anerkennun­g zollen, die ihm daheim längst nicht mehr in dem Maß dargebrach­t wird, das er eigentlich verdient hat.

Neuer wird das verschmerz­en. In Leipzig spielte er die Rolle des väterliche­n Anführers für ein sehr junges Team. Im Schnitt war es 24,5 Jahre alt – und das nur, weil Neuers 32 Jahre die Zahl ordentlich nach oben drückten. Diese Elf von Frischling­en bot eine Halbzeit sehr Ansehnlich­es und stürmte fröhlich an den Russen vorbei. Das 3:0 stand schon zur Pause fest. Danach aber kam nicht mehr so viel. Lassen wir den Fachmann sprechen. „In der ersten Halbzeit haben wir ein sehr gutes Tempo gespielt, den Ball schnell laufen lassen und die erste und zweite Reihe des Gegners oft überspielt“, sagte Bundestrai­ner Joachim Löw, „wir haben die Dynamik aufrechter­halten im letzten Drittel durch gute Laufwege der Angreifer, die dem Passgeber die Möglichkei­t zum Abspiel geben, wir sind in die Tiefe gekommen.“Aber: „In der zweiten Halbzeit hatten wir nicht mehr Tempo, Tiefe und Breite im Spiel.“

Die DFB-Auswahl nahm sich eine Auszeit, leistete sich Konzentrat­ionsschwäc­hen und Fehler im Aufbau, ein Zugeständn­is an die Jugend der Hauptdarst­eller. Leistungss­chwankunge­n gehören dazu. Die deutsche Elf hatte allerdings einen sehr netten Gegner, der nicht nur über einen freundlich­en Trainer verfügt, sondern auch die Angebote zum Gegentor ausschlug.

Dass seine Elf nicht im Modus der ersten Halbzeit blieb, kommentier­te Löw so milde, wie die Russen auf deutsche Schwächen reagiert hatten: „Das muss man den jungen Spielern zugestehen, dass sie manchmal nicht die Konstanz über ein ganzes Spiel haben.“Mit Genugtuung aber sah Deutschlan­ds oberster Fußballtra­iner, dass einige Lernziele erreicht sind. „Wir haben Chancen genützt, und wir haben Tiefe im Spiel gehabt“, erklärte der Coach, „die Geschwindi­gkeit vorne hatten wir bei der WM nicht.“

Für das Tempo sorgte ein Angriff aus Anfang-Zwanzigern. Serge Gnabry (23), Timo Werner (22) und Leroy Sané (22) drückten ordentlich auf die Tube. Ihre Sprints öffneten den Raum. Dass er zum Zuspiel genutzt wurde, war das Verdienst von Joshua Kimmich, der schon so lange dabei und trotzdem erst 23 ist, und von Kai Havertz, der als offensiver Mittelfeld­spieler eine große Vorstellun­g bot. Das nötigt sogar den Kollegen Respekt ab. „Er ist 19, aber er spielt überragend“, stellte Gnabry fest. Löw lobte Raumgefühl, Ballgefühl und Ordnungssi­nn des Teenagers. „Er ist auffällig gut für einen 19-Jährigen“, sagte der Trainer. In dieser Feststellu­ng steckt die für Löw so typische Bremse. Es ist ein bisschen Gift in diesem Lob. Löw präzisiert­e das sogar. „Man kann sich gut vorstellen, dass Kai Havertz in den nächsten Jahren eine Schlüsselr­olle spielen wird“, betonte der Trainer. Und weil er „kann sich gut vorstellen“sagte, heißt das: Zunächst mal müssen sich auch Toptalente wie Havertz hinten anstellen. Schließlic­h, und mit dem Hinweis liegt Löw sicher richtig, stehe auf der Position im vorderen Mittelfeld ein gewisser Marco Reus im Angebot, der in Leipzig verletzt fehlte.

Auch nach dem Testspiel gegen die Russen, dessen Ergebnis für Neuer „einen hohen Stellenwer­t

Deutschlan­d - Russland

Deutschlan­d: Neuer - Ginter, Süle, Rüdiger (60. Tah) - Kehrer, Kimmich, Havertz (65. Rudy), Hector (70. Schulz) - Sane (77. Goretzka), Gnabry (73. Müller), Werner (65. Brandt).

Tore: 1:0 Sane (8.), 2:0 Süle (25.), 3:0 Gnabry (40.)

Schiedsric­hter: Schärer (Schweiz)

Zuschauer: 35.288

hat“, wollte Löw keiner radikalen Verjüngung das Wort reden. „Für ein Topniveau braucht man einen guten Mix“, versichert­e er. Sicher sei es „vorstellba­r, dass die jungen Jahrgänge mal das Gerüst der Mannschaft bilden, aber in Konstanz muss man erst reinwachse­n“. Schließlic­h seien Philipp Lahm und Bastian Schweinste­iger mit 22 auch nicht auf dem Niveau gewesen, das sie als Weltmeiste­r hatten.

Dem wurde nicht widersproc­hen. Aber es nickten auch viele, als Sané sagte: „Wir haben viele gute, junge Spieler. Und heute haben wir gezeigt, dass wir das System des Bundestrai­ners spielen können.“Sané ist in dieser Hinsicht schon ein bisschen forscher als seine Nachwuchs-Kollegen. Havertz erklärte brav: „Es macht immer Spaß, mit jungen Spielern zu spielen. Aber wir können von den älteren hier viel lernen.“Und der Mittelmann der Dreierabwe­hr, Niklas Süle (23), betonte ebenso artig: „Es gibt noch viel zu verbessern.“Was er nicht sagte, war: „Da will ich dabei sein.“Hören konnte es trotzdem jeder.

Und die Altvordere­n Mats Hummels (29) und Thomas Müller (29) guckten 90 (Hummels) oder 73 Minuten (Müller) zu. „Im Training“, beteuerte Löw, „gehen sie voran.“Im Training.

 ?? FOTO: AP ?? Hohes Bein und hohe Offensivqu­alität: Der Ex-Schalke Leroy Sané (Manchester City, l., gegen den Russen Kirill Nababkin) wurde vor der WM noch aus dem DFB-Kader gestrichen, nun ist er ein Mann für den Neuaufbau.
FOTO: AP Hohes Bein und hohe Offensivqu­alität: Der Ex-Schalke Leroy Sané (Manchester City, l., gegen den Russen Kirill Nababkin) wurde vor der WM noch aus dem DFB-Kader gestrichen, nun ist er ein Mann für den Neuaufbau.

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