Hamborns Aufstieg zur Arbeiterstadt
Arbeiterfrauen hatten es zurzeit der Industrialisierung schwer. Das stellte Akademikerin Li Fischer-Eckert heraus.
Industrialisierung und Liberalisierung schafften zu Beginn des 20. Jahrhunderts einerseits Wachstum und Wohlstand für das Bürgertum, andererseits aber konjunkturelle Unsicherheit und soziale Ungleichheit. Die Benachteiligung der Frauen zeigte sich damals unter anderem im Kampf um das Wahlrecht. Die Einwohnerzahl von Hamborn lag um 1900 noch bei rund 30.000 und verdreifachte sich innerhalb von zehn Jahren auf über 100.000 (Stand: 1911). Jede Konjunkturschwankung im Bergbau und in der Stahlindustrie führte zu Fluktuation und extremen Wanderungsbewegungen. Das größte Dorf Preußens wurde praktisch über Nacht Großstadt – eine Migrationsgesellschaft.
Mit dieser Bevölkerungsexplosion konnte weder die Infrastruktur – also Straßen, Kanalisation, Elektrizitätsversorgung, Verkehrsmittel – noch der Ausbau von Schulen, Krankenhäusern und Wohnungen mithalten. Es gab in Hamborn drei Dampf-Latrinen-Reinigungs-Unternehmen, ein Automatenrestaurant und immerhin zwölf Fourage (Pferdefutter)-Handlungen. Die beengten Wohnungen boten keine Rückzugsmöglichkeiten. Viele Familien nahmen Kostgänger zur Aufbesserung des Haushaltsgeldes auf. Unzureichende Ernährung, mangelnde Hygiene ließen die Säuglingssterblichkeit ansteigen. Ein Milieu, in dem Tausende von Kindern aufwuchsen, die keinen Zugang zum Bildungsangebot hatten. Dieses Umfeld führte dazu, dass Armut oft zu Bildungsarmut wurde. Das galt damals wie heute. All das beschrieb die Autorin Li Fischer-Eckert vor mehr als 100 Jahren.
Mit der Befragung von 495 Hamborner Arbeiterfrauen gehörte Li Fischer Eckert zu den Pionierinnen der empirischen Sozialforschung. Sie erhob Daten und fragte nach Herkunft, Ausbildung und den Be- rufen der Ehemänner, die vor allem als Bergmänner und Fabrikarbeiter tätig waren. Die Befragungsergebnisse waren ernüchternd : Die geweckten Hoffnungen auf hohen Lohn erfüllten sich bei den Ehemännern nicht. Kinder, Küche, Kostgänger – das war das Schicksal der Arbeiterfrauen. Die Frauen lebten in einer abgeschlossenen Welt. Die Zitate „Es drängt sich alles auf eine Frage zusammen, was sollen wir essen....“oder „Der Weg zu Kirche oder Friedhof war die einzige Abwechslung in der Eintönigkeit ihres Daseins“spiegeln dies wider.
Die meisten von ihr vorgefundenen Haushalte lagen unterhalb des Existenzminimums. Kein Wunder bei einem durchschnittlichen Wochenlohn von 22,88 Mark. Li Fischer belegte dies mit statistischen Lohn- und Preisdaten und widersprach mit Fakten dem Oberschicht-Vorwurf der „unersättlichen Vergnügungssucht der arbeitenden Bevölkerung“. Sie rechnet akribisch vor, dass bei dem damaligen Lohnniveau eine mehrköpfige Familie nicht ernährt werden konnte. Sie blieb nicht bei der Analyse stehen und entwickelte konkrete Maßnahmen zum Abbau der Armut. Ihre Vorschläge zielten darauf, Not und Elend in Arbeiterfamilien durch die praktische Unterweisung in häuslichen Wirtschaftsfragen zu lindern und den Arbeiterfrauen Zugang zu Bildungsangeboten zu verschaffen.
Erforderlich schien ihr entschlossenes Handeln und das Engagement von bürgerlicher, kommunaler und industrieller Seite: Das gebildete Bürgertum müsse Maßnahmen zur Förderung eines sozialen Verantwortungsgefühls er-
greifen. Soziologen nennen das heute Unterstützung bei der Aktivierung eigener Ressourcen. Li Fischers Denkmodell setzte auf eine konzertierte Vorgehensweise. Von der Kommune und von der Industrie forderte sie bezahlbaren Wohnraum und die Gründung von Wohnungsgenossenschaften. Von den Unternehmern verlangte sie nicht weniger, als sowohl „die innere Festigkeit des Arbeiters“als auch die Löhne anzuheben. Das klingt recht aktuell und spiegelt die heutige Mindestlohndebatte und die Forderung nach unbefristeter Beschäftigung wider. Natürlich geht es dabei auch um finanzielle Mittel, aber ebenso um kulturelles Umdenken, um den Abbau von falschen Konventionen. Trotz aller sozialpolitischer Fortschritte und deutlicher Niveau-Unterschiede: Auch heute sehen Wissenschaftler den Abbau von Armut als Querschnittsaufgabe, die alle politischen Bereiche einbeziehen muss.