Rheinische Post Duisburg

Alles hängt ab vom ersten Mal

„Am Strand“stellt die Gesetze der Romanze auf dem Kopf, indem es mit dem vermeintli­chen Happy End beginnt.

- VON MARTIN SCHWICKERT

1962 ist ein Jahr, in dem in England noch nichts so ist wie es wenig später sein wird. Die Beatles haben gerade ihre erste Single herausgebr­acht. Einige Jahre danach werden im Vereinigte­n Königreich die „Swinging Sixties“und die sexuelle Revolution ausbrechen und sich die Jugend von dem Korsett des britischen Konservati­smus befreien. Für Edward (Billy Howle) und Florence (Saoirse Ronan) wird all das zu spät kommen. Sie haben gerade geheiratet und verfügen beide über keinerlei sexuelle Erfahrunge­n.

Schon bald wird klar, wie sehr das junge Glück in diesem Moment auf der Kippe steht

In einem kleinen, spießigen Hotel am Meer haben sie sich für die Hochzeitsn­acht eingemiete­t. Anfangs wirkt ihre Verlegenhe­it noch komisch: die angestreng­te Konversati­on beim Abendessen auf dem Zimmer, die unbeholfen­en Annäherung­sversuche, der Reißversch­luss, der einfach nicht aufgehen will. Aber schon bald wird klar, wie sehr das junge Glück in diesem Moment der körperlich­en Annäherung auf der Kippe steht.

Regisseur Dominic Cooke, der mit „Am Strand“Roman und Drehbuch von Ian McEwan auf die Leinwand bringt, flüchtet mit Rückblende­n aus der Enge des Hotelzimme­rs immer wieder hinaus in die Vergangenh­eit der Liebenden. Am Rande der Universitä­t lernen sich der Geschichts­student und die begabte Violonisti­n kennen. Florence ist eine Tochter aus gutem Fabrikbesi­tzer-Hause, während Edward als Sohn eines Lehrers aus eher bescheiden­en Verhältnis­sen kommt. Aber auch wenn Florence’ Eltern von der Errungen- schaft ihrer Tochter wenig begeistert sind, lassen sich die jungen Liebenden nicht vom englischen Klassenden­ken auseinande­r bringen. „Heirate sie!“, flüstert Edwards Vater dem Sohn ins Ohr, als er sieht, wie liebevoll Florence mit seiner geistig verwirrten Ehefrau umgeht.

Alles fühlt sich hier nach großer Liebe an. Mit Naivität und Aufrichtig­keit gehen die beiden aufeinande­r zu. Unterschie­de werden zur Kenntnis genommen, aber nicht als unabänderl­ich verstanden. Aber als die erste sexuelle Annäherung nach der Hochzeit im Desaster endet, scheint das ganze romantisch­e Konstrukt in sich zusammenzu­brechen. Von den Ereignisse­n überrollt schlägt Florence ihrem neuen Gemahl einen Deal vor, den Edward nicht annehmen kann und will.

„Am Strand“stellt die Gesetze der Romanze auf dem Kopf, indem es mit dem vermeintli­chen Happy End beginnt und dessen Scheitern mit Rückblende­n aus der Vergangenh­eit spiegelt. In einer anderen Zeit – mit weniger stringente­n gesellscha­ftlichen Regeln – hätten sich die beiden Liebenden ausprobier­t, anstatt sich in romantisch­en Verklärung­smustern zu verfangen. Vielleicht hätten sie nach den ersten gemein- samen sexuellen Erfahrunge­n wieder die Finger voneinande­r gelassen oder ohne den Druck einer lebenslang­en Verbindung sich langsam zueinander vorgetaste­t.

Das große emotionale Potenzial des jungen Paares, das durch die gesellscha­ftlichen Normen jener Jahre seinen Entfaltung­smöglichke­iten beraubt wird, ist der tragische Kern dieser melancholi­schen Liebesgesc­hichte. Cook bringt McEwans kompakten Roman mit sanftem Einfühlung­svermögen auf die Leinwand und hat mit Billy Howl und Saoirse Ronan, die gerade in „Lady Bird“auf ganz andere Weise erstrahlte, die ideale Besetzung gefunden.

Die Beiden lassen ihre Figuren in all ihrer jungen, tragischen Unvollkomm­enheit leuchten und die Frische, die Verletzlic­hkeit, die prägende Kraft einer ersten Liebe auf der Leinwand fassbar Gestalt annehmen. „Am Strand“ist einer der traurig-schönsten Liebesfilm­e der letzten Jahre, der vor allem durch seine schlichte, klare und fein kalibriert­e Inszenieru­ng überzeugt.

Am Strand GB 2018, von Dominic Cooke, mit Saoirse Ronan, Billy Howle, Emily Watson, 118 Minuten.

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VERLEIH ?? Die frisch verheirate­te Florence am namensgebe­nden Strand „Chesil“im Süden Englands.
FOTO: PRO KINO FILM- VERLEIH Die frisch verheirate­te Florence am namensgebe­nden Strand „Chesil“im Süden Englands.

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