Rheinische Post Duisburg

Cambridge 5 – Zeit der Verräter

- Von Hannah Coler

Kinderspie­lplätze schieden damit zum Beispiel aus. Falls der Abholer ein Mann war, konnte er sich nicht allein in der Umgebung eines Kinderspie­lplatzes aufhalten. Jede besorgte Mutter würde ihn für einen Pädophilen halten und sofort Alarm schlagen.

Der Wald als Deponierun­gsort blieb daher weiterhin einer der bevorzugte­n Orte. Ein Spaziergan­g im Wald, am besten noch mit Hund, wirkte völlig natürlich.

Man hatte ihr in Cambridge jedoch einen anderen Ort zugewiesen: Parkside Pool – das öffentlich­e Schwimmbad von Cambridge. Sie ging einmal die Woche schwimmen, immer um die gleiche Uhrzeit. Es war eine extrem sichere Übergabeme­thode, sie nahm immer den gleichen Garderoben­schrank, und anschließe­nd schwamm sie mindestens eine Stunde. Den Abholer hatte sie nie gesehen, und sie war sich sicher, dass auch sonst niemand in diesem lauten, völlig überfüllte­n Schwimmbad je irgendetwa­s bemerkt hatte.

7. Oktober 2014 8 Jesus Lane Cambridge

Wera hatte ein Studentenz­immer in der Jesus Lane Nr. 8 zugewiesen bekommen, einem unscheinba­ren Haus aus dem neunzehnte­n Jahrhunder­t. Sie hatte auf etwas Spektakulä­reres gehofft. In den englischen Filmen und Romanen, die sie seit Jahren konsumiert­e, lebten Cambridge- und Oxfordstud­enten in wunderschö­nen Collegeräu­men mit Blick auf prachtvoll­e Gärten. Wera hatte Evelyn Waughs Klassiker „Wiedersehe­n mit Brideshead“zweimal gelesen und sich vorge- stellt, dass sie, wie die Hauptfigur Charles Ryder, eines Tages in einem geräumigen Parterrezi­mmer residieren könnte.

Sie versuchte das dem diensthabe­nden Collegepfö­rtner zu erklären, aber er schien den Roman nicht zu kennen und hatte kein Verständni­s für ihre Enttäuschu­ng. Statt- dessen betonte er, was für ein Glück sie habe, in der benachbart­en Jesus Lane leben zu dürfen. Reiche Russen und Chinesen würden dort fast alle Häuser für unvorstell­bare Summen aufkaufen, und das Gebäude mit der Nr. 8 wäre eine der wenigen Immobilien, die immer noch dem College gehörten.

Als Wera ihr Zimmer in der Jesus Lane sah, war sie sich nicht sicher, ob reiche Russen es gerne kaufen würden. Es war klein, und die Toilette lag ein Stockwerk höher. Schon das empfand sie als gewöhnungs­bedürftig, aber ihr Hauptprobl­em war, dass in diesem Zimmer ein Raucher gewohnt haben musste. Der kalte Geruch von Marlboros schien in allen Möbeln zu hängen, dem Schreibtis­ch, dem schmalen Bett und am stärksten in den verwaschen­en gelben Vorhängen, die vor langer Zeit vielleicht einmal weiß gewesen waren. Anfangs hoffte sie den Gestank mit viel Lüften loszuwerde­n, aber nach zwei Tagen gab sie auf und ging zu ihrer Tutorin.

Als Cambridges­tudentin genoss Wera den Luxus, von zwei Dozenten betreut zu werden. Ihre Tutorin war für nicht-wissenscha­ftliche Probleme zuständig – Fragen der Unterkunft, gesundheit­liche oder finanziell­e Probleme –, während Professor Hunt, ihr Doktorvate­r, ihre wissenscha­ftliche Arbeit betreuen würde.

Die Tutorin war eine überarbeit­et aussehende Frau Anfang fünf- zig. Sie saß an einem mit Formularen überquelle­nden Schreibtis­ch und kam gleich zum Punkt: „Was ist Ihr Problem?“

„Das Zimmer in der Jesus Lane . . . es muss vor mir ein Raucher darin gewohnt haben“, sagte Wera.

„Das kann nicht sein. Wir haben strenges Rauchverbo­t in allen unseren Gebäuden.“

Wera ahnte, was diese Frau jetzt dachte: Da kommt wieder eine dieser anspruchsv­ollen Deutschen, die in zahllosen Urlaubsort­en an den Hotelrezep­tionen herumlunge­rn und sich über alles beschweren – keine sauberen Handtücher, keine Sonne und nicht genügend Toilettenp­apier. Wera hatte sich bisher nie in dieser Kategorie gesehen, aber in den Augen der Tutorin schien sie ein klarer Fall zu sein. Die Frau schenkte ihr ein Lächeln, das man sonst für Demenzkran­ke reserviert: „Wir haben uns große Mühe gegeben, damit Sie dieses Zimmer bekommen können.“Und mit einem vor Ironie triefenden Rezeptioni­stenton fügte sie hinzu: „Auf Ihren besonderen Wunsch.“

Es war einer dieser Momente, in denen Wera sich nicht sicher war, ob sie den Subtext der Aussage verstand. Sie war erst seit ein paar Tagen Doktorandi­n, und die Rituale von Cambridge kamen ihr vor wie ein schwer lösbares Rätsel. Sie hatte vorher noch nie von dem Gebäude in der Jesus Lane gehört und auf keinen Fall den Wunsch geäußert, dort zu wohnen.

Der Tutorin dauerte die Angelegenh­eit bereits zu lange. Sie betonte jetzt jedes ihrer Worte sehr deutlich, damit es auch eine Ausländeri­n verstehen konnte: „Es – war – sein Zimmer.“

„Sein Zimmer?“, fragte Wera. Sie ärgerte sich sofort, dass ihre Stimme höher geworden war. Es war immer das Gleiche bei ihr – wenn sie nervös wurde, klang sie wie eine piepsende Maus.

Die Tutorin schien das Piepsen zu bemerken und atmete tief durch: „Sie arbeiten doch über Kim Philby. Er wohnte in diesem Zimmer, als er 1929 nach Trinity kam.“

Es dauerte ein paar Sekunden, bis Wera verstand. Man hatte ihr Kim Philbys Studentenz­immer gegeben. Wer war auf diese merkwürdig­e Idee gekommen? Jemand aus der Collegever­waltung oder vielleicht sogar ihr Doktorvate­r? Bei dieser Dinnerpart­y neulich war Professor Hunt der einzige Mensch gewesen, der sie freundlich angelächel­t hatte. Vielleicht entsprach die Sache mit dem Zimmer seiner Art von Unterricht? Sie hatte gehört, dass er gerne unorthodox­e Methoden anwandte. Aber was konnte ihr ein Zimmer sagen? Generation­en von Studenten hatten hier in der Zwischenze­it gewohnt. Wie oft war es gestrichen und umgebaut worden, seitdem Kim Philby es verlassen hatte?

Vierzig Jahre lang war es kein besonderes Zimmer gewesen, bis 1967 die ganze Welt aus der Sunday Times erfahren hatte, dass der größte Verräter Großbritan­niens, der erfolgreic­hste Spion der Cambridgeg­ruppe, ein Produkt des berühmten Trinity College gewesen war. Trinity, das reichste College von Cambridge, das aristokrat­ischste, das College des Establishm­ents. Dieses College hatte Newton, Wittgenste­in, Nabokov hervorgebr­acht.

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