Rheinische Post Duisburg

Was Straßburg für uns bedeutet

In Straßburg hat ein Mann am Dienstagab­end nahe dem Weihnachts­markt Menschen getötet und verletzt. Die deutsche Polizei kannte den Hauptverdä­chtigen, auch die Justiz führt eine Akte über ihn.

- VON GREGOR MAYNTZ UND EVA QUADBECK

Letzte Gewissheit­en über die Motive des Attentäter­s fehlten zunächst. Dennoch ergibt sich aus den ersten Erkenntnis­sen zum Anschlag in Straßburg eine Reihe wichtiger Fragen, die auch in Deutschlan­d geklärt werden müssen.

Wer ist der Attentäter von Straßburg? Der Hauptverdä­chtige ist Chérif C., ein 29-jähriger Franzose mit nordafrika­nischen Wurzeln. Er wuchs mit sechs Geschwiste­rn in Straßburg auf, arbeitete nach dem Schulbesuc­h für örtliche Behörden und war seit 2011 arbeitslos. 2008 wurde er in Frankreich, 2013 in der Schweiz und 2016 in Deutschlan­d zu Gefängniss­trafen verurteilt. Nach Verbüßen der Haft wurde er im Sommer vergangene­n Jahres nach Frankreich abgeschobe­n. Die Polizei wollte ihn am Dienstagmo­rgen im Zusammenha­ng mit Ermittlung­en zu einem Mordversuc­h festnehmen, traf ihn aber nicht an. In seiner Wohnung sollen sich eine Granate und weitere Waffen befunden haben.

Gibt es Versäumnis­se bei den deutschen Behörden?

Die deutsche Polizei kannte Chérif C., auch die deutsche Justiz hat eine dicke Akte über ihn. Aber: Während der französisc­he Inlandsgeh­eimdienst ihn als islamistis­chen Gefährder einstufte, hielt der deutsche Inhaltsgeh­eimdienst ihn offensicht­lich weiterhin für einen Polizeifal­l. Wenn sich diese Hinweise im Innenaussc­huss des Bundestage­s bestätigen, hätte Deutschlan­d erneut eine eklatante Sicherheit­slücke bei der Bewertung von potenziell­en Terroriste­n. Sicherheit­skreise wiesen darauf hin, dass die Registrier­ung in der französisc­hen „fiche-S“-Datei deutlich niedrigsch­welliger erfolge als bei der Datei mit den Namen islamistis­cher Gefährder in Deutschlan­d. Das Attentat von Straßburg zeigt, dass Deutschlan­d die Kriterien ganz offensicht­lich überprüfen muss.

Brauchen wir auch an der Westgrenze Kontrollen wie zwischen Bayern und Österreich?

Für den CDU-Innenexper­ten und Polizisten Armin Schuster zeigt der Anschlag von Straßburg, „wie wichtig es ist, dass Deutschlan­d grenzkontr­ollfähig bleibt“. Die Bundespoli­zei habe binnen kürzester Zeit die Grenze nach Frankreich sichern können. „Genau solche Kontrollen lässt das Schengenab­kommen zu“, erläuterte Schuster. Eine Lücke gebe es jedoch immer noch beim grenzüberg­reifenden Informatio­nsaustausc­h.

Wie gehen die Behörden in Deutschlan­d vor?

Die Polizeibeh­örden von Bund und Ländern sind verstärkt an der Fahndung nach den Flüchtigen beteiligt. Die Schleierfa­hndung vor allem in Baden-Württember­g und Bayern wurde verstärkt. Nach Auskunft des bayerische­n Innenminis­ters Joachim Herrmann werden auch die Anlagen zur automatisi­erten Kennzeiche­nerkennung zur Fahndung eingesetzt. Die Innenminis­ter von Bund und Länder haben sich über weitere Maßnahmen verständig­t. Am Schutz der Weihnachts­märkte, auf denen teilweise schon vorher Polizisten mit Maschinenp­istolen patrouilli­erten, soll nach Auskunft von Innenminis­ter Holger Stahlknech­t vorerst nichts verändert werden.

Was geschieht in NRW? NRW-Innenminis­ter Herbert Reul ist im engen Austausch mit seinen Kollegen in Bund und Ländern und will die Lage weiter genau beobachten. „Falls erforderli­ch, werden die Sicherheit­smaßnahmen noch einmal verstärkt“, sagte der CDU-Politiker unserer Redaktion. Er habe am Mittwoch bereits die Polizeibeh­örden angewiesen, mit den Verantwort­lichen in den Kommunen über mögliche weitere Sicherungs­maßnahmen zu sprechen.

Gibt es Parallelen zum Weihnachts­marktatten­tat von Berlin? Grünen-Innenexper­tin Irene Mihalic sieht vor allem eine große Parallele“: Auch Anis Amri, den Attentäter vom Breitschei­dplatz, hatten die Behörden zuvor auf dem Schirm, und auch bei ihm versichert­e der Verfassung­sschutz, dass dies ein Fall für die Polizei und nicht für den Verfassung­sschutz gewesen sei. Und genau so sei nun eine erste Unterricht­ung der Regierung über den Straßburge­r Fall verlaufen. „Das ist schon merkwürdig“, sagt Mihalic.

Sind wenigstens die Hintergrün­de der Pannen beim Berliner Weihnachts­marktansch­lag geklärt?

Der Bundestag hat einen zweiten Untersuchu­ngsausschu­ss gebildet, weil die Erkenntnis­se des ersten Germium zu lückenhaft waren. Und auch jetzt wirft die Opposition der Regierung vor, nicht alle Fakten auf den Tisch zu legen. FDP, Linke und Grüne werden an diesem Donnerstag sogar eine Verfassung­sklage gegen die Regierung vorlegen, weil sie sich weigert, die beteiligte­n V-Leute befragen zu lassen und nicht einmal die zuständige­n V-Leute-Führer aussagen lässt. Das unterstrei­cht den Verdacht, dass noch nicht alle wichtigen Umstände geklärt sind.

Was ist aus dem europäisch­en Terror-Abwehrzent­rum geworden?

Die Bundesregi­erung hatte sich sehr frühzeitig dagegen ausgesproc­hen, auf europäisch­er Ebene das zu installier­en, was in Deutschlan­d mit dem Gemeinsame­n Terrorabwe­hrzentrum als ständige Konferenz von 40 Sicherheit­sbehörden mehr Kooperatio­n garantiert. Deshalb ist das 2016 gegründete Europäisch­e Zentrum für Terrorismu­sbekämpfun­g als Anhängsel von Europol auch wenig schlagkräf­tig geblieben. Es verfügt lediglich über 81 eigene und 14 von Mitgliedsb­ehörden entsandte Mitarbeite­r, sammelt Strategien für den Anti-Terrorkamp­f, veranstalt­et internatio­nale Konferenze­n und konzentrie­rt sich unter anderem auf die Bekämpfung von islamistis­ch-terroristi­schen Internetpr­äsenzen. CSU-Europa-Experte Florian Hahn nennt es einen „wichtigen Baustein in der Bekämpfung grenzübers­chreitende­n Terrors“, der aber „deutlich stärker mit Leben gefüllt“werden müsse.

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