Rheinische Post Duisburg

Cambridge 5 – Zeit der Verräter

- Von Hannah Coler

„Alles klar, also sollen wir reingehen?“Jaspers Stimme klang jetzt sehr geschäftsm­äßig. „Wera sucht was Neues über Kim Philby, und ich brauche für meine Diss russische Geheimdien­stberichte aus den Siebzigerj­ahren. Wir zahlen bar.“

Polina ignorierte ihn und drehte sich zu Wera. „Philby, der KGB-Spion? Was interessie­rt dich an ihm?“

Wera war überrascht, dass Polina von Philby gehört hatte, aber dann fiel ihr ein, dass er in Russland genauso berühmt war wie in Großbritan­nien. „Ich will wissen, wie er es geschafft hat, alle so lange zu hintergehe­n.“

Polina schaute sie schweigend an. Ihr Blick war so intensiv, dass Wera nervös wurde und ziellos weiterrede­te: „Natürlich interessie­ren mich auch andere Dinge . . . seine Rekrutieru­ng, die Berichte, die er nach Moskau weitergab, eigentlich alles, und . . . ja, auch was die Russen über ihn schrieben. Wie sie ihn einschätzt­en.“

„Ich verstehe“, sagte Polina nach einer Weile.

„Also, gehen wir jetzt rein?“, drängelte Jasper.

Sie stiegen die Treppe in den ersten Stock hoch und gelangten in einen kleinen Vorraum des Archivs. Der Archivar, ein untersetzt­er Mann um die sechzig, telefonier­te gerade. Er sah angestreng­t aus.

„Ja, Sie müssen Ihren Pass und einen Beleg Ihrer Privatansc­hrift mitbringen, am besten Ihre letzte Heizungsab­rechnung . . . ja, Heizungsab­rechnung, um Ihre Privatansc­hrift nachzuweis­en . . . Sicher, aber das sind nun mal die Vorschrift­en . . . Ja, Ihnen auch.“

Er legte auf und wandte sich an David.

„Lassen Sie mich raten, Sie und Ihre Freunde wollen die Mitrochin-Papiere einsehen? Ich hoffe, Sie sind an ernsthafte­r Forschung interessie­rt, Sie können sich gar nicht vorstellen, mit welchen Borderline-Persönlich­keiten ich seit Monaten zu tun habe. Lauter selbst ernannte Spionageex­perten, die genau wissen wollen, ob ihr verhasster Chef oder Nachbar in diesen Dokumenten als KGB-Agent aufgeführt wird. Und natürlich wollen sie alle irgendwelc­he großen Verschwöru­ngen aufdecken.“

David legte seinen Collegeaus­weis und seinen Pass auf den Tisch.

„Wir sind auf jeden Fall seriös. Meine Freunde brauchen Einsicht in die Papiere für ihre Doktorarbe­iten.“

Der Archivar blätterte Davids Pass durch, er wirkte immer noch übellaunig.

„Wenn Sie mich fragen, sind die meisten dieser sogenannte­n Spionageex­perten noch nie zuvor in einem Archiv gewesen. Sie krümeln die Unterlagen mit ihren Sandwiches voll und beschweren sich darüber, dass ihnen neue Akten erst ausgehändi­gt werden, wenn sie die alten wieder abgegeben haben. Aber die Profis, die die Archivrege­ln genau kennen, sind auch nicht besser. Die ordern die Unterlagen im Dreißig-Minuten-Takt und fotografie­ren sie wie verrückt ab.“

„Wir werden versuchen, Sie nicht mit zu vielen Bestellung­en zu belästigen“, sagte David.

Der Archivar schien nicht überzeugt.

„Sie wissen, die Unterlagen sind auf Russisch?“

„Ja.“

„Haben Sie eine Übersetzer­in dabei?“

Polina schob sich nach vorne und lächelte den Archivar an. „Ich bin Russin.“

Die Laune des Archivars verbessert­e sich schlagarti­g. Es war ganz offensicht­lich, dass er sie attraktiv fand,

„Ich hoffe, Sie haben viel Zeit mitgebrach­t?“

„Wieso?“

„Diese Papiere sind ein einziges Labyrinth.“

20. Oktober 2014 Pizza Express Jesus Lane Cambridge

Au-pair-Mädchen wie Polina waren die Nebbiche von Cambridge. Ganz oben rangierte die Hochkultur der Universitä­t, all die Wissenscha­ftler und ihre elitären Studenten. Irgendwo gab es die Mitte – „normale“Einheimisc­he –, und ganz unten kamen sie. Die Au-pair-Mädchen von Cambridge durften die Arbeit hinter den Kulissen erledigen, putzen, kochen, kranke Kinder hüten. Alles, um ihre überteuert­en Sprachkurs­e zu finanziere­n.

Historisch gesehen war ihre Stellung schon immer prekär gewesen. Es hatte sich bisher niemand die Mühe gemacht, die Geschichte der Cambridger Au-pair-Mädchen zu erforschen, aber wenn es eine Überblicks­darstellun­g der letzten sechzig Jahre gegeben hätte, wäre sie größtentei­ls negativ ausgefalle­n. Früher, als es kaum Studentinn­en in Cambridge gegeben hatte, waren sie es gewesen, die zahllosen männlichen Studenten sexuell ausgeholfe­n hatten. Noch in den 1960er-Jahren hatten wohlmeinen­de Tutoren ihren heterosexu­ellen Cambridges­tudenten geraten: „Suchen Sie sich entweder eine Verkäuferi­n von der Woolworth-Filiale oder ein Aupair-Mädchen.“Au-pairs galten als Freiwild, die man – wenn die Sache unangenehm wurde – ohne großen Aufwand nach Hause schicken konnte.

Woolworth gab es schon lange nicht mehr, und es existierte mittlerwei­le auch kein Mangel an Studentinn­en als Sexualpart­nern. Aupair-Mädchen mussten nicht mehr fürchten, nach dem Semesteren­de schwanger sitzengela­ssen zu werden. Sie hatten jetzt andere Probleme.

Einmal in der Woche trafen sich fünfzehn von ihnen im Pizza Express in der Jesus Lane. Eigentlich war das Restaurant zu teuer, eine Pizza kostete hier fast doppelt so viel wie im Pizza Hut, aber sie hatten sich darauf geeinigt, fünf Pizzas zu bestellen und dann zu teilen.

Da einige von ihnen ein ambivalent­es Verhältnis zum Essen hatten, stellte das für sie kein großes Opfer dar. Es ging bei diesen Treffen sowieso nicht um die Nahrungsau­fnahme, sondern in erster Linie um die Atmosphäre. Es war den Mädchen wichtig, in diesem elegant getäfelten Restaurant zu sitzen und für einen Moment das Gefühl zu haben, dass es zwischen ihnen und den wohlhabend­en Studenten um sie herum keinen Unterschie­d gab.

Auf der Menükarte hatten sie alles über die Geschichte des Gebäudes gelesen. Es war nicht irgendein Pizza Express. Im ersten Stock befand sich der exklusive Pitt Club, in dem sich Cambridges­tudenten aus den besten Kreisen trafen. Er war ein Äquivalent zu dem Oxforder Bullingdon Club, in dem Premiermin­ister David Cameron und der Londoner Bürgermeis­ter Boris Johnson Mitglieder gewesen waren.

(Fortsetzun­g folgt)

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