„Ohne Kohle wäre Deutschland undenkbar“
Zum Abschied von der Steinkohle erinnerte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier an die historischen Leistungen der Bergleute. Symbolisch holten Kumpel die letzte Kohle hoch. Viele hatten Tränen in den Augen.
BOTTROP Es regnet, es ist grau, Sturmböen wehen die Halde Haniel hinunter: Beerdigungswetter in Bottrop. Passend zum Anlass. Auf der Zeche Prosper Haniel nimmt Deutschland Abschied vom Bergbau. „Wir sind Zeugen eines historischen Augenblicks“, sagt Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. „Hier geht ein Stück deutscher Geschichte zu Ende.“
Mit Prosper Haniel schließt die letzte von einst 1000 Zechen in Deutschland. Die letzte Kohle wurde schon vorWochen gefördert. Nun holen sieben Kumpel noch einmal symbolisch das schwarze Gold unter der Kirchheller Heide hoch und übergeben es an den Bundespräsidenten. Sie kommen von der dritten Sohle, aus 400 Metern Tiefe. Es ist die letzte Seilfahrt. Die sieben Bergleute treten aus dem Förderkorb in ein Zelt, wo Hunderte Gäste und viele Kameras warten.
Jürgen Jakubeit, 50-jähriger Reviersteiger aus Oberhausen, hat das letzte Stück Kohle in der Hand und eine Träne im Auge. RAG-Chef Peter Schrimpf täschelt ihm den Rücken. „Das ist nicht nur ein Stück Kohle, das ist ein Stück Geschichte“, sagt Steinmeier, selbst ergriffen. Hannelore Kraft, frühere Ministerpräsidentin von NRW, wischt sich die Tränen aus dem Gesicht.
„Glückauf, der Steiger kommt“, singen alle – auch die Chefs von Eon und Evonik. Zum letzten Mal. Filmszenen zeigen, wie hart, schwarz, ungesund, männergeprägt die Welt unter Tage war. Alle sind gekommen, um Abschied zu nehmen: EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, Ministerpräsident Armin Laschet, der Chef der RAG-Stiftung Bernd Tönjes – und sein Vorgänger Werner Müller, der einst die Blaupause für den Kohleausstieg schrieb. Wie vieles hier im Ruhrgebiet sei auch der sozialverträgliche Kohleausstieg von Müller angeschoben worden, der der Region „mit Kopf und Herz verbunden ist“, so Steinmeier. Müller hat im Frühjahr wegen einer schweren Erkrankung sein Amt als Chef der RAG-Stiftung niedergelegt. Steinmeier: „Du glaubst nicht, wie sehr ich mich freue, dass du heute bei uns bist.“Großer Applaus.
„Danke, Kumpel“, sagt Steinmeier zu den Bergleuten. Und würdigt ihre historische Leistung. „Ohne die Kohle, ohne den Bergmann wäre die Wirtschaftsmacht, die Deutschland vom 19. Jahrhundert an wurde, nicht denkbar“, so Steinmeier. Zehn Milliarden Tonnen haben die Bergleute in den vergangenen 200 Jahren zu Tage gebracht, wie sie sagen. Erst mühsam mit der Hacke, dann mit dem Presslufthammer, zuletzt mit dem Walzenschrämlader. 40 Grad und heißer Luftzug blieben unter Tage bis zum Schluss – trotz der Hightech-Maschinen. Bis heute sehen Schrimpf und andere nicht ein, warum nun der Betondeckel auf die Schächte kommt und Deutschland Kohle aus Ländern importiert, in denen es womöglich noch Kinderarbeit gibt.
Der Bundespräsident erinnert auch an die dunklen Seiten des deutschen Bergbaus, der die Maschinerie der Weltkriege befeuert und es Deutschland erlaubt hatte, die Nachbarn mit Vernichtung und Zerstörung zu überziehen.
„Unbesungene Heldinnen“nennt Steinmeier die Frauen in den Zechensiedlungen. Sie waren bis zum Schluss nicht im Schichtbetrieb unter Tage, mussten jedoch im ewigen Dreck und Staub den Alltag organisieren. „Und nie konnten die Frauen sicher sein, dass ihr Sohn, ihr Mann, ihr Vater heil von der Schicht zurückkommen würde.“
Das gilt trotz aller Sicherheitsbemühungen bis heute. Was für eine Bösartigkeit der Geschichte: Montag noch kam ein junger Bergmann im Bergwerk Ibbenbüren bei Aufräumarbeiten ums Leben, am Donnerstag starben 13 Bergleute bei einem Grubenunglück in Tschechien. Noch bevor die letzte Kohle auf Prosper Haniel hochgebracht wurde, gedachten die 500 Gäste der Toten.
Natürlich beschwört der Bundespräsident auch die viel gerühmte Solidarität – die weit über die Zechen hinausging. „Als 1997, in der Zeit der Stahlkrise und der großen Demonstrationen, die Fans bei den Fußball- derbys nicht mehr die Vereinsnamen, sondern gemeinsam ,Ruhrpott, Ruhrpott‘ skandierten, war das ein Zeichen für das Heimatbewusstsein der Region.“Bis heute versteht sich Schalke 04 als auf Kohle gebaut. Steinmeier erinnert daran, dass der frühere Ruhrbischof Franz Hengsbach ein Stück Kohle im Bischofsring trug und keinen Mann zum Priester weihte, der nicht einmal unter Tage war.
„Das Steigerlied
wird nicht verstummen“
EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker lobt ebenfalls die Solidarität unter Tage und wundert sich: „Wieso kann das über Tage nicht auch so sein?“Er erinnert daran, dass Kumpel die Basis für die soziale Marktwirtschaft gelegt und europaweit Mitbestimmung erkämpft hätten: „Ohne Kohle gäbe es keine Montanmitbestimmung und keine soziale Marktwirtschaft.“Als Sohn eines Stahlarbeiters sei er überzeugt: „Ohne Kohle gäbe es keine Europäische Union.“Die Montanunion von 1952 stand am Anfang der EU.
Der NRW-Ministerpräsident würdigt die integrative Leistung des Bergbaus. Auch bei der letzten Seilfahrt sind türkischstämmige Kollegen dabei. Zugleich kündigt Laschet an: „Das Steigerlied wird nicht verstummen, wir werden es bei of- fiziellen Anlässen des Landes auch in Zukunft spielen.“So wolle man das Andenken an Kohle und Kumpel in Ehren halten. Kritiker, denen der Ausstieg zu lange gedauert hat, schweigen. Es ist ein Tag des Respekts, nicht der Kritik.
„Dieses Land braucht mehr Kumpelkultur“, fordert Michael Vassiliadis, Chef der Gewerkschaft IG BCE, mit Blick auf die auseinander driftende Gesellschaft, aber auch auf seinen aktuellen Kampf gegen den Kohleausstieg. Mit Blick auf die Braunkohle, die in der Lausitz und im rheinischen Revier abgebaut wird, fordert der Bundespräsident die Solidarität anderer Regionen ein - ob vom Steuerzahler oder Stromkunden finanziert, bleibt offen. Jedenfalls sagt er: „Wenn jetzt über den endgültigen Ausstieg aus der Kohleförderung, also auch der Braunkohle, gesprochen wird, werden sich auch hier Solidarität und Partnerschaftlichkeit zeigen müssen. Auch hier geht es um die Lebensfähigkeit ganzer Regionen.“Applaus bei den 500 Gästen. Die Steinkohle ist über die Jahrzehnte mit 120 Milliarden Euro subventioniert worden. Beim Braunkohle-Ausstieg fordern NRW, Sachsen und Brandenburg zweistellige Milliarden-Beträge an Strukturhilfe.
Für das Revier ist Steinmeier zuversichtlich: Früher habe man sich manchmal geschämt, aus dem Ruhrgebiet zu sein, heute sei man stolz darauf. Der hochmütige Satz, einst vom Autor Heinrich Böll geschrieben, das Ruhrgebiet sei noch nicht entdeckt worden, stimmt eben nicht mehr. „Sie haben hier zwei Jahrzehnte lang buchstäblich Berge versetzt. Warum sollte das nicht auch in Zukunft gelingen?“rief der Bundespräsident dem Revier zu.
Der Schacht, auf dem der Abschied zelebriert wird, wird jedenfalls weiter gebraucht. Hier, unter dem 40 Meter hohen Förderturm von Prosper Haniel, wird eine der Pumpen hängen, mit denen die RAG verhindert, dass das Ruhrgebiet „absäuft“, wie man hier sagt. Und zwar auf ewig. Auch das ist ein Symbol bei dieser nationalen Beerdigung. Als die Bergleute am Schacht dem Bundespräsidenten mit einem tiefkehligen „Glückauf“antworten, klingt es wie „Amen“.
Armin Laschet NRW-Ministerpräsident