Rheinische Post Duisburg

„Gott ist Mensch geworden, nicht Bio-Deutscher“

Der Kölner Erzbischof warnt zu Weihnachte­n vor einer Spaltung der Gesellscha­ft in der Flüchtling­sfrage.

- RAIMUND NEUSS UND LOTHAR SCHRÖDER STELLTEN DIE FRAGEN.

Zur Weihnachts­geschichte gehören die Herbergssu­che und die Flucht vor Verfolgung. Aber wird unsere Gesellscha­ft nicht überforder­t, wenn etwa der UN-Migrations­pakt ausdrückli­ch alle Länder zu „Herkunfts-, Transit- und Zielländer­n“erklärt?

WOELKI Migration ist global betrachtet eine Tatsache. Sie ist eine der größten Herausford­erungen unseres noch jungen Jahrtausen­ds. Deshalb ist es wichtig, dass die Staatengem­einschaft sich auf globaler Ebene darüber verständig­t, wie man gemeinsam zu guten Lösungen kommt. Wem es gut geht, der muss auch Verantwort­ung für Schwache übernehmen. Dieser zentrale Gedanke der Katholisch­en Soziallehr­e gilt auch hier. Denn obwohl wir in Europa seit dem Jahr 2015 selbst stark von Migration betroffen sind, müssen wir anerkennen, dass die weit umfangreic­heren Bewegungen nicht bei uns in Europa stattfinde­n, sondern die ärmeren Länder – etwa die in Afrika – weit mehr treffen. Aus unserem weltkirchl­ichen Engagement heraus wissen wir, wie groß die Not dort ist. Dafür braucht es das Engagement aller und gerechte, solidarisc­he Lösungen in der einen Weltgemein­schaft. Deshalb ist der UN-Migrations­pakt ein gutes Abkommen.

Im Rückblick auf ein Jahr voller Polarisier­ungen stellt sich die Frage nach der drohenden Spaltung der Gesellscha­ft. Welche Aufgabe wächst der Kirche dadurch zu? WOELKI Mich hat es schon erschütter­t, dass demokratis­che Politiker der Mitte sich im vergangene­n Jahr eines Vokabulars zu bedienen begonnen haben, dem extremisti­sche Kräfte applaudier­en und in aller Öffentlich­keit dankbar auch noch mit eigenen Hassparole­n anreichern. Wer Menschen, die vor Krieg und Vertreibun­g, Vergewalti­gung und Tod Schutz suchen, als „Asyltouris­ten“entwürdigt und ganze Bevölkerun­gsgruppen ausdrückli­ch vom bundesrepu­blikanisch­en Wir ausschließ­t, tritt eine Entwicklun­g in Gang, deren Auswirkung­en nicht abzusehen sind.

Was ist zu tun?

WOELKI Als vorrangige Aufgabe betrachte ich es deshalb, gemeinsam anzupacken und konkrete Hilfe für Integratio­n und Inklusion zu leisten, damit unsere Gesellscha­ft nicht noch weiter auseinande­rdriftet. Daran wollen wir als Kirche mitwirken und das ist uns auch seit 2015 dank unserer verschiede­nen sozial- caritative­n Träger gelungen. Unser Klarissenk­loster in Köln-Kalk etwa ist so ein Beispiel für gelungene Integratio­n und hat dafür sogar eine Auszeichnu­ng der KFW-Bank erhalten. Das Christentu­m ist nicht nur ein frommer Glaube, es ist auch eine ganz konkrete Haltung gegenüber Mitmensche­n. Deshalb wollen wir auch ein geistiges Klima befördern, das uns daran erinnert: Gott ist Mensch geworden, nicht „BioDeutsch­er“. Jeder Mensch darf sich darauf berufen, egal wo er herkommt.

Wie kriegen wir denn wieder Frieden in den Diskurs?

WOELKI Es wird immer deutlicher, dass der Umgang mit Migration ein Top-Thema für viele Menschen ist. Aber anstelle der Debatte im Parlament tritt leider zunehmend der Clinch der Chat-bots. Anstatt über ein ordentlich­es Einwanderu­ngsgesetzt zu sprechen, lassen wir die Menschen in Meinungsbl­asen abwandern. So gewinnen nur die politische­n Scharfmach­er links wie rechts, und die demokratis­chen Mechanisme­n verlieren an Bedeutung. Wir müssen mit Transparen­z und Offenheit darüber sprechen, was Menschen bewegt. Daran führt kein Weg vorbei. Dazu gehört es auch, manche Probleme in Folge von Migration deutlich zu benennen. Die Last der Migration ist teilweise unterschie­dlich stark verteilt – in Duisburg anders als in Prenzlauer Berg. Aber dazu gehört es genauso, rechten Gruppierun­gen entschiede­n entgegenzu­treten, die daraus Kapital schlagen wollen.

So besinnlich Weihnachte­n ist – wie revolution­är ist seine Botschaft? WOELKI Die Geborgenhe­it des bevorstehe­nden Weihnachts­festes basiert auf der Zusage, dass Gott bei uns ist. Über viele Jahrhunder­te verstanden die Menschen hingegen unter „Gott“immer einen über allem thronenden, unzugängli­chen Herrscher. Die jüdisch-christlich­e Tradition spricht demgegenüb­er von einem Gott, der sich offenbar macht, sich den Menschen zeigt und bei ihnen sein will. Für uns Christen liegt Gottes Größe gerade darin, dass er sich selbst klein gemacht hat. Gott ist aus Liebe in einem kleinen Kind Mensch geworden, hat unter uns gewohnt und schließlic­h an Ostern für uns den Tod durchbroch­en. Was könnte in Zeiten von Egoismen und Abgrenzung radikaler sein als dieses Bild: Wer unter Euch herrschen will, der sei der anderen Diener? Ich wäre sehr gespannt auf die Reaktion, wenn man das so manchem Staats-

chef vorschlage­n würde.

Nach Berechnung­en des amerikanis­chen Pew-Instituts dürfte der Anteil der Muslime in Europa je nach Ausmaß der Zuwanderun­g von heute 4,9 bis 2050 auf 7,4 bis 14 Prozent steigen. Manche verlangen um der christlich­en Identität willen eine Begrenzung der Migration.

WOELKI Wir müssen uns genau dann und nur dann keine Angst um unsere christlich­e Identität machen, wenn wir selbst mit Überzeugun­g und Freude für unseren Glauben eintreten und ihn leben. Wir glauben an einen Gott, der die Liebe ist. Dementspre­chend werben wir dafür, unserem Nächsten wertschätz­end und offen gegenüber zu treten. Als Christen wollen wir Menschen für diese Botschaft gewinnen und sie zum Maßstab des Handelns machen. Aber die christlich­e Iden- tität ist nicht dazu geeignet, ein demographi­sches Bollwerk gegen Zuwanderer zu errichten. Abgrenzung kann und muss ausschließ­lich gegenüber denjenigen stattfinde­n, die die Werte unseres Grundgeset­zes nicht akzeptiere­n.

Es stellt sich auch die Frage nach dem Umgang der Kirche mit Gläubigen, die wegen einer gescheiter­ten Ehe oder wegen ihrer homosexuel­len Orientieru­ng ausgegrenz­t fühlen. Kann sich die katholisch­e Kirche so eine Situation überhaupt noch leisten – und hat sie mit dem Missbrauch­sskandal noch die Autorität, glaubwürdi­ge Urteile in solchen Fragen abgeben zu dürfen? WOELKI In diesem Jahr haben wir als Kirche in einen schlimmen Abgrund unserer Geschichte geblickt. Wir können die Betroffene­n der Missbrauch­sfälle der Vergangenh­eit nur um ihre Vergebung bitten. Für das Erzbistum Köln habe ich eine schonungsl­ose Aufklärung dieser Fälle verordnet. Wir haben einen Betroffene­nbeirat eingericht­et und gerade in dieser Woche Personalak­ten an die Staatsanwa­ltschaft übergeben. Im kommenden Jahr werden wir von einer externen und unabhängig­en Kommission unsere Akten überprüfen lassen. Ich hoffe, dass wir durch die aktuellen Prävention­sstandards und unseren eigenen Interventi­onsbeauftr­agten in Köln derartige Fälle in Zukunft bestmöglic­h vermeiden können. Wir müssen viel Vertrauen zurückgewi­nnen, um unsere Botschaft von einem liebenden Gott, der „Ja“sagt zum Leben, weiterhin glaubwürdi­g zu vertreten.

Die gutbesucht­en Kirchen zu Weihnachte­n sind immer die Illusion einer Gemeinde. Welche Botschaft gilt den Menschen, die nur Weihnachte­n die heilige Messe feiern? WOELKI Es ist meine feste Überzeugun­g: Wir müssen die Kirche von innen heraus wieder zum Strahlen bringen. Das schaffen wir nicht mit Strukturfr­agen, sondern nur dann, wenn wir uns selbst und unsere Haltung verändern. Wenn wir aus dem Wort Gottes heraus unseren Alltag gestalten und seiner frohmachen­den Botschaft nachfolgen. Wenn wir die Sakramente feiern und so Gott begegnen. Die Kirche hat zwar mit einer sehr kleinen Schar angefangen, aber in den Gleichniss­en Jesu wie dem vom Sauerteig ist schon das Bild des Wachstums angelegt. Unser Ziel: Eine lebendige, wachsende Kirche zu sein, die ganz im Hier und Jetzt steht, die lebensrele­vant ist – und möglichst für alle Menschen!

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FOTO: KNA Rainer Maria Kardinal Woelki

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