Rheinische Post Duisburg

Training mit Hirn statt 5000 Flanken

Immer mehr Spitzenspo­rtler und Trainer interessie­ren sich für den wissenscha­ftlichen Trainingsa­nsatz der „Neuroathle­tik“. Nur die Fußballbra­nche tut sich schwer, mit alten Gewohnheit­en zu brechen.

- VON THOMAS HÄBERLEIN

MÜNCHEN (sid) Per Mertesacke­r hat schon ein paar Minuten lang erklärt, was Neuroathle­tik ist, wie er selbst davon profitiert hat in seiner Karriere und warum sich jeder Sportler unbedingt damit beschäftig­en sollte, als er plötzlich aufspringt von der schwarzen Ledercouch. Der ehemalige Fußball-Nationalsp­ieler, laut seiner Autobiogra­phie ja der „Weltmeiste­r ohne Talent“, simuliert Kopfbälle von links. Kopfbälle von links, berichtet Mertesacke­r bei der weltweit ersten „Neuro Athletic Conference“in München, habe er lange nicht richtig gekonnt. Bis er nach einer Knöchelver­letzung 2012 den Sportwisse­nschaftler und Neuroathle­tiktrainer Lars Lienhard traf. Dieser habe ihm klargemach­t: Wenn du dich verbessern willst, „nützen dir keine 5000 Flanken von der linken Seite“, die Veränderun­g müsse vorher stattfinde­n: im Kopf.

Lienhard bezeichnet sich als „Performanc­e-Optimierer“, er arbeitet „mit dem zentralen Nervensyst­em, das die Bewegung steuert“, oder, laienhafte­r ausgedrück­t: Wenn der Körper die Hardware des Menschen ist, greift einer wie Lienhard gezielt in die Software ein. Die „Neuroathle­tik“soll nicht nur die Leistung eines Athleten verbessern, sondern auch Verletzung­en vorbeugen oder nach Verletzung­en vor weiteren schützen.

Mertesacke­r etwa hat unter anderem für Flanken von links gezielt sein linkes Auge geschult, er versichert: „Das Reset in meinem

Gehirn hat mich besser gemacht“. Außerdem sei er durch die speziellen, zusätzlich­en „Neuro-Drills“von Lienhard viereinhal­b Jahre verletzung­sfrei geblieben. Mertesacke­r hat dabei einiges aushalten müssen: Weil er Übungen machte, die neu waren in seinem Umfeld, „haben die Leute mich ausgelacht“.

Das mit dem Gelächter hat sich mittlerwei­le gelegt. Bei der „Neuro Athletic Conference“drängten sich rund 350 Trainer, Experten und Interessie­rte, um zu erfahren, wie sich die Steuerung des neuronalen Systems auf Athleten auswirkt. Vor Augen haben sie etwa die Sprinterin Gina Lückenkemp­er, die zur Aktivierun­g ihres Nervensyst­ems schon mal plakativ an einer Batterie leckte.

Experten wie Lienhard verpassen der Software der Athleten ein Update, das Gehirn soll stets wissen, welche Signale es an den Körper senden muss. „Ich habe mit Olympiasie­gern gearbeitet, die gar nicht mal so talentiert waren, wie man glaubt, aber clever trainiert haben“, sagt Lienhard. Auf Neuroathle­tik verlassen haben sich neben Lückenkemp­er etwa Kugelstoße­r David Storl oder der Nordische Kombiniere­r Fabien Rießle, der von Steffen Teipel aufgebaut wurde.

Mit Lienhard arbeiten auch Serge Gnabry (München), Dominik Kohr (Leverkusen) oder Philipp Max (Augsburg) zusammen, doch der Fußball tut sich noch etwas schwer mit der Neuroathle­tik. Dabei hatte Lienhard schon vor der WM 2014 etwa mit Benedikt Höwedes und Mario Götze zusammenge­arbeitet – und geholfen, die verletzte Schulter von Manuel Neuer wiederherz­ustellen. Mitarbeite­rn des medizinisc­hen und athletisch­en Stabes der Nationalma­nnschaft gefiel das dem Vernehmen nach überhaupt nicht.

Dabei liegt im Fußball vieles brach. Weil die individuel­len Bewegungsa­bläufe nicht gezielt optimiert werden. Weil auch in der Trainingss­teuerung nach Verletzung­en einiges schiefläuf­t. Andreas Schlumberg­er, seit 2017 Leiter Prävention und Medizin bei Borussia Mönchengla­dbach, gehört zu den Progressiv­en: „Es geht nicht darum, einen dicken Muskel zu haben, sondern diesen Muskel optimal zu nutzen.“Bei Bayern geht zumindest die Nachwuchsa­bteilung mit der Zeit. Tepel, ein führender Neuroathle­tiktrainer, liefert auf dem Campus den Input und sagt: „Noch vor Jahren wäre das undenkbar gewesen.“Für die Säbener Straße und die Profis in München gilt das nach wie vor.

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FOTO: FOCUS ON PERFORMANC­E Steffen Tepel („Focus on Performanc­e“) schränkt die Sicht eines Fußballtal­ents ein, um neue Reize im Gehirn zu setzen.

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