Cambridge 5 – Zeit der Verräter
Trotzkis und seiner Mitverschwörer Priorität vor der Auskundschaftung feindlicher Regierungen. Deutsch spezialisierte sich ausschließlich auf die Rekrutierung von neuen Agenten.
Er war ein „Illegaler“, das hieß, er besaß keinen sowjetischen Diplomatenpass und damit keine Immunität im Fall einer Verhaftung. Auf diese Weise lebte er permanent am Rande des Abgrunds, und natürlich unterliefen ihm anfangs Fehler. Sie halfen ihm, besser zu werden. Wenn man konspirativ arbeitete wie Deutsch, musste man Fehler gemacht und überlebt haben. Seine Spezialität wurde Großbritannien. Er reiste immer ganz legal ein – als Arnold Deutsch. Der Name brachte Vorteile. Sein Onkel war ein wohlhabender englischer Geschäftsmann, Besitzer einer Kinokette, die bis heute in Großbritannien existiert. Der nichtsahnende Onkel konnte jederzeit Empfehlungsschreiben für sei- nen Neffen Arnold ausstellen.
Die Empfehlungen waren nützlich, denn Deutsch richtete sein Augenmerk auf die Universitäten. Er hatte mit seinem Vorgesetzten Orlow einen langfristigen Plan entwickelt, eine Vision, die erst in fünf oder zehn Jahren Früchte tragen würde. Er wollte junge Leute rekrutieren, die sich für den Kommunismus begeisterten und die eines Tages, nach ihrem Studium, Schlüsselpositionen in der englischen Gesellschaft erklimmen würden. Um ihnen näherzukommen, immatrikulierte Deutsch sich an der Universität London in seinem Lieblingsfach Psychologie. Da sich Deutsch anfangs nicht im englischen Hochschulsystem auskannte, hatte er gedacht, die Universität London müsse die entscheidende Einrichtung sein, an der eine neue Generation von Führungskräften ausgebildet wurde. Erst mit der Zeit stellte er fest, dass die elitärsten Einrichtun- gen des Landes Oxford und Cambridge waren, und so fing er an, dort nach geeigneten Personen Ausschau zu halten.
Zwanzigjährige zu beeindrucken ist für einen intelligenten Dreißigjährigen nicht sonderlich schwer. Besonders wenn es sich um Zwanzigjährige handelte, die in einem Kokon aus guten Schulen und Universitäten aufgewachsen waren und keine anderen Welten kannten. Für sie wurde Deutsch der ältere Bruder, der ihnen die Augen öffnete, ein Reisender aus vielen Welten. Er hörte den jungen Leuten zu, er nahm sie ernst, und er bot ihnen eine gefährliche, aber aufregende Alternative für ihr weiteres Leben.
Die Sowjetunion war für junge Briten etwas Exotisches, Verbotenes, das von ihren Eltern verteufelt wurde. Durch Arnolds Erzählungen hörten die Studenten von einer anderen, verlockenden Sowjetunion. Und Arnold war ein guter Erzäh- ler. Bei der Rekrutierung achtete er darauf, die dunklen und die hellen Seiten der menschlichen Seele anzusprechen. Rachegefühle interessierten ihn genauso wie die Hoffnung auf eine bessere Welt. Kim Philby und seine Generation von jungen Studenten litten unter den sozialen Ungerechtigkeiten ihrer Gesellschaft. Der Hass auf die alten Männer, die den Weltkrieg nicht verhindert hatten, saß tief. Diese unfähige Vätergeneration hatte ihre Söhne auf die Schlachtfelder geschickt, während sie sich im Casino ihre Zigarren ansteckte. Nachdem die Söhne abgeschlachtet worden waren, hatte man für die Überlebenden keine gerechtere Gesellschaftsordnung geschaffen. Nach dem Krieg hatte die Vätergeneration da weitergemacht, wo sie 1914 aufgehört hatte. Für Kim Philbys Generation war dies der größte Verrat.
(Fortsetzung folgt)