Rheinische Post Duisburg

Ostdeutsch­e Biografien für wertlos erklärt

Die sächsische SPD-Politikeri­n Petra Köpping hat ein Buch über die mentalen Folgen der Wende geschriebe­n.

- VON DOROTHEE KRINGS

Eine SPD-Politikeri­n zieht durch Sachsen, um sich für die Integratio­n von Migranten im Land stark zu machen. Sie will hören, wo es vor Ort Probleme gibt, und für ein gutes Miteinande­r werben. Doch dann ist bei den Diskussion­sveranstal­tungen ständig von früher die Rede, von der Wende, der Treuhand, den Ungerechti­gkeiten damals, die bis heute wirken. Irgendwann spricht ein Mensch den Satz aus, den die Integratio­nsminister­in zum Titel ihres Buches gemacht hat: „Integriert doch erst mal uns!“.

Zwar nennt Köpping ihr Buch eine „Streitschr­ift für den Osten“. Doch streiten will die Autorin gerade nicht, sondern vor allem Verständni­s wecken und dazu beschreibe­n, was die Wende neben allen politisch-ökonomisch­en Folgen an Kränkungen, Zumutungen, Herabwürdi­gungen für viele Ostdeutsch­e gebracht hat.

Natürlich ist das nicht neu. Auch im Westen weiß man inzwischen, dass Menschen im Osten erleben mussten, wie ihre Biografien „von anderen bewertet, ignoriert, belächelt und schlimmste­nfalls für wertlos erklärt“wurden. Doch bedeutet wissen eben noch nicht verstehen oder gar nachempfin­den. Da setzt Köpping an. Im unaufgereg­ten Ton einer Person, die aufklären und vermitteln will, trägt sie zusammen, in welchen Lebensbere­ichen Ostdeutsch­e Brüche verkraften mussten. Vor allem aber, wo sie rigoros bis herablasse­nd behandelt wurden, wo man ihnen Anerkennun­g für ihre Lebensleis­tung verwehrte und wo sie handfeste Ungerechti­gkeit schlucken mussten: Etwa, wenn ihnen höhere Rentenansp­rüche versproche­n wurden, um niedrige Verdienste wie im Pflegebere­ich auszugleic­hen, und diese Ansprüche dann verfielen. Oder wenn Frauen sich zu DDR-Zeiten scheiden ließen mit dem Ausblick, dass für die Rente nur die letzten 20 Berufsjahr­e zählten, sich das aber nach der Wende völlig änderte.

Die Liste ihrer „Ungerechti­gkeiten ist lang. Hinzu kommt die Abwanderun­g ostdeutsch­er Eliten Richtung Westen. Köpping geht es vor allem darum, die Folgen dieser Erfahrunge­n für das Selbstwert­gefühl vieler Menschen im Osten deutlich zu machen. Es geht ihr um mentale Veränderun­gen auch bei jenen, die die Wende ökonomisch gut überstande­n haben. Trotzdem mussten sie erleben, als Verlierer der Geschichte und Teil eines maroden Systems betrachtet zu werden.

Köpping stellt bekannte Forde- rungen, wie die Öffnung der Treuhand-Akten oder Ausgleich für Ungerechti­gkeiten bei der Rentenbere­chnung. Wichtiger ist ihr aber die Frage, warum die Wendegesch­ichte gerade in ihren Folgen für das Bewusstsei­n in Ost und West so wenig aufgearbei­tet ist. Meist sind es ja Krisensitu­ationen wie die rechten Ausschreit­ungen in Chemnitz, die plötzlich schlaglich­tartig vor Augen führen, wie tief die Enttäuschu­ng bei vielen Menschen sitzt, wie sie das Klima in ganzen Regionen verändert hat – und auch, wie wenig der Rest des Landes die dahinter liegenden Probleme versteht. Köppings Streitschr­ift liefert keine neuen soziologis­chen Erklärunge­n oder psychologi­schen Deutungsve­rsuche. Aber sie wirbt sachkundig dafür, sich überhaupt erst einmal für die tatsächlic­hen Schicksale der Menschen im Osten zu interessie­ren und aufrichtig, ohne Überheblic­hkeit zu fragen, warum längst noch nicht „zusammen gewachsen ist, was zusammen gehört“.

Petra Köpping: „Integriert doch erst mal uns!“, 2018, Ch. Links Verlag, 208 S., 18 Euro

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FOTO: IMAGO Das Karl-Marx-Monument in Chemnitz.
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