Rheinische Post Duisburg

Die Wildnis von Hampstead Heath

Hoch über London gibt es noch ein Stück Natur, das nicht von der Millionens­tadt verschlung­en worden ist. Auf Hampstead Heath kann man in kniehohem Gras sitzen, eine fantastisc­he Aussicht genießen - und angeblich sogar Gespenster­n begegnen.

- VON CHRISTOPH DRIESSEN

Mein Kater Jacob ist viel zu früh verstorben, aber zumindest hat er ein denkbar schönes Grab. Er ruht auf Preacher’s Hill am südlichen Rand von Hampstead Heath in London. Ein Ort, der keinesfall­s als Katzenfrie­dhof vorgesehen ist. Aber es war damals ein regnerisch­er Dezemberta­g, das Begräbnis ging ohne Zeugen vonstatten.

In Hampstead hat man das Beste zweier Welten:Man ist nur vier U-Bahn-Stationen von Piccadilly Circus entfernt und fühlt sich doch wie auf dem Land. Das liegt am Village-Charakter, an den verträumte­n Häusern und verwinkelt­en Gassenund eben am Heath, dem Wald- und Wiesengebi­et auf einer Anhöhe hoch überder Stadt.

Der höchste Punkt heißt Parliament Hill. Darunter erstreckt sich die gesamte Innenstadt, von Big Ben im Westen bis zu den Hochhäuser­n von Canary Wharf im Osten. London erscheint zum Greifen nah, und doch so unwirklich wie eine Fata Morgana - man selbst steht inkniehohe­m Gras. Der Heath wirkt wie eineWildni­s, diewegen eines glückliche­n Zufalls mitten in der bald Neun-Millionen-Metropoleü­berlebt hat.

Seit ich nicht mehr in London wohne, sehne ich mich ständig zurück nach Hampstead Heath. Egal zu welcher Jahreszeit- der Heathhat immer seinen Reiz. Ich kann mich an einige Winter erinnern, als Schnee lag. Am ersten schönen Wochenende im Frühjahr strömt halb London auf den Heath, um einmal tief durchzuatm­en und sich davon zu überzeugen: „Spring is in the air.“Friedrich Engels, der mit seinem Freund Karl Marx über Jahrzehnte hinweg mehrmals in der Woche auf den Heath wanderte, schrieb begeistert, sie würden bei diesen Gelegenhei­ten „mehr Ozon als ganz Hannover“einatmen.

Die große Attraktion des Sommers sind die drei Naturschwi­mmbäder, die ursprüngli­ch als Trinkwasse­r-Reservoirs angelegt wurden. Es gibt einen Teich für Männer - ein bekannter Schwulentr­eff - ei- nen für Frauen und einen „mixed bathing pond“. Das Wasser ist kühl, und manchmal stößt man an Seerosen. Ein zusätzlich­es Spannungse­lement ergibt sich daraus, dass man das Wasser mit Hechten teilt.

Samstagabe­nds gibt es auf Hampstead Heath Sommerkonz­erte vor dem Landsitz Kenwood House, bekannt aus dem Hugh-Grant-Film „Notting Hill“. Wer eine Karte gekauft hat, macht es sich im Liegestuhl bequem – wer keine Karte hat, auf einer Picknickde­cke. Falls es mal regnet: Kenwood House beherbergt eine exquisite Gemäldegal­erie mit Werken von Rembrandt, Frans Hals und Vermeer. Der Eintritt ist frei.

Die schönste Jahreszeit ist für mich aberder Herbst. Dann lassen die Londoner auf Parliament Hill ihre Drachen steigen. Die bunten Vögel stehen am Himmel, darunter funkelnim weichen Licht der Nachmittag­ssonne die Dächer des gegenüberl­iegenden Stadtviert­els Highgate. Nach Süden hin hat man den Ausblick auf die endlose Stadt mit ihren immer schneller wachsenden Hochhäuser­n.

Eine englische Freundin hat einmal gesagt, sie gehe in der Dämmerung grundsätzl­ich nicht über den Heath. Auf die erschrocke­ne Nachfrage, ob es dort etwa Überfälle gegeben habe, schaute sie mich verwundert an und sagte: „Nein. Ich meine natürlich die Geister.“

Ich habe mich daraufhin informiert und weiß nun, dass derHeath tatsächlic­h als ein Lieblingso­rt der umtriebige­n Londoner Gespenster­schaft gilt. Unter den ruhelosen Seelen befinden sich ein Phantom-Pferd, eine Weiße Frau und ein Räuberhaup­tmann namens Black Dick. Doch ich könnte mich auf dem Heath niemals fürchten.

Die einzigen Verstorben­en, deren Anwesenhei­t ich hier bemerke, sind jene, deren Namen auf den Parkbänken verewigt sind. Praktische­rweise gibt es auf Hampstead Heath sehr viele Bänke, die meisten erinnern an verblichen­e Freunde dieses schönen Fleckchens Erde: „In loving memory of...“Da kann die letzte Ruhestätte meines Katers nicht mithalten.

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FOTO: CHRISTOPH DRIESSEN/DPA-TMN Londoner Skyline von Hampstead Heath aus: In dem Wald- und Wiesengebi­et haben Besucher nicht mehr das Gefühl, in einer Großstadt zu sein.

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