„Als Trainer muss man sich immer neu beweisen“
Es ist ein frühsommerlicher Nachmittag im Mai 2008. Zwei ältere Herren liegen sich auf dem Rasen der Münchner Arena weinend in den Armen, Bayerns Manager Uli Hoeneß (damals 56) und Trainer Ottmar Hitzfeld (59). Der Coach gibt seinen Abschied, nachdem er für eineinhalb Jahre eingesprungen ist. Er verabschiedet sich mit dem Gewinn des Doubles aus Meisterschaft und Pokalsieg. Und als der Druck von ihm abfällt, rollen die Tränen über sein kantiges Gesicht. „Es waren Tränen des Glücks“, sagt er. Es sind vor allem Tränen der Erleichterung. Fast 20 Jahre hat Hitzfeld sich durch die Mühle Bundesliga gekämpft, er verlässt die Liga als einer ihrer größten Trainer. Seine Karriere klingt 2014 als Nationaltrainer der Schweiz aus. Am Samstag wird er 70 Jahre alt.
Er sieht entspannter aus als zu seiner Zeit an der Linie, als sich die nervliche Belastung in tiefen Falten rund um Augen und Mund ins Gesicht malen. Hitzfeld ist nie der Typ gewesen, der Anspannung rauslässt, der ein Ventil findet wie extrovertierte Kollegen vom Schlag eines Jürgen Klopp. Er hat auch nie die Fähigkeit besessen, im Vertrauen auf die eigene Unbesiegbarkeit Probleme zu ignorieren. In dieser Hinsicht sind ihm Amtsbrüder wie José Mourinho oder Joachim Löw voraus.
Hitzfeld dagegen schluckt herunter, was in anderen den Vulkan weckt. Das trägt ihm schon zu Dortmunder Zeiten diesen magensauren Zug um die Mundwinkel ein. Und es führt letzten Endes dazu, dass er seine Karriere 2004 wegen eines Burnouts unterbrechen muss. Er sucht ärztliche Hilfe, weil er allein aus diesem grauen Matsch nicht mehr herauskommt. Der „Sport-Bild“schildert er, wie sich das Leben für ihn anfühlte, für einen Trainer, der zum Zeitpunkt der Erkrankung schon sechs deutsche Meisterschaften und zwei Champions-League-Titel gewonnen hat, den also eigentlich nichts umwerfen sollte: „Man gewinnt und freut sich nicht. Man gewinnt und sagt: zum Glück nicht verloren. Man schläft schlecht, man hat Rückenschmerzen. Ich hätte nicht gedacht, dass der Job so einen gewaltigen Einfluss hat.“
Sich dagegen zu panzern, hat Hitzfeld nicht gelernt. Er leidet mit, wenn er Spielern unangenehme Entscheidungen präsentieren muss. Er hält die Schläge der Öffentlichkeit aus. Spieler an den Pranger zu stellen, ist nicht sein Ding. Seine Fußballer verehren ihn dafür. „Er hat immer alles erklärt“, sagt Stefan Effenberg, „er ist zu mir gekommen, als er das Gefühl hatte, dass ich nicht mehr gesetzt bin.“Ottmar Hitzfeld ist ganz sicher nicht feige.
Er ist ein Diplomat, ein Meister der Moderation. Deshalb hält er in Dortmund eine Mannschaft ichbezogener Großverdiener bei Laune und gewinnt mit ihr die Champions League. Er erträgt, dass Julio Cesar den Urlaub überzieht. Er verzeiht Paulo Sousa bemerkenswerte Anfälle von Divenhaftigkeit. Und er macht aus dem Ehrgeiz des Matthias Sammer Energie für sein Team. Mit dem besessenen Sammer ist er nie auf einer Wellenlänge, aber er begreift den Wert des Spielers und nimmt sich zurück.
Ärger macht er mit sich aus. Das ist anstrengend, und es führt dazu, dass er in Dortmund nach zwei Meisterschaften und dem Sieg in der Champions League auf den Posten des Sportdirektors wechselt.
Das ist dann aber wieder zu viel Schreibtisch für den Trainer, der immer zwischen den Extremen „ich will es mir wieder beweisen“und „es tut mir eigentlich nicht gut“pendelt. Dass er die in Deutschland größtmögliche Herausforderung annimmt, das Traineramt beim FC Bayern, passt in dieses Charakter- spiel. Seine Meisterschaft in der Moderation wird auch hier die Grundlage großer Erfolge. Bundesliga-Titel räumt der Verein mit einer Selbstverständlichkeit ab, wie er es erst wieder in den Jahren seit 2013 tut. Und auch die Krönung durch den Sieg in der Champions League gelingt 2001. Aber der Erfolg macht nie zufrieden, er fordert nur den nächsten Erfolg. „Dann wird es ja erst gefährlich“, sagt er der „SportBild“, „als Trainer muss man sich in jedem Spiel neu beweisen. Immer wieder neu. Gewinnen, das Gewonnene wiederholen.“Hitzfeld nennt es einen „Existenzkampf“.
Auch in München geht der an die Substanz. Er muss nämlich nicht nur 20 hochbezahlte Egomanen in der Mannschaft pflegen, er muss auch aufpassen, zwischen den Mühlsteinen der Mächtigen in der Chefetage nicht zerrieben zu werden.
Die Bayern werden von den Großen des deutschen Fußballs geführt, und die begnügen sich nicht mit Nebenrollen. Als die Mannschaft in der Champions-League-Gruppe bei Olympique Lyon mit 0:3 verliert, hält Präsident Franz Beckenbauer beim Bankett eine legendäre Rede. „Das war kein Fußball“, poltert der Kaiser, „das ist eine andere Sportart, die
wir spielen. Das ist Uwe-Seeler-Traditionsmannschaft, Altherren-Fußball.“Das gilt natürlich auch dem Trainer. Hitzfeld reagiert auf seine Art. Noch in der Nacht trommelt er seine Mannschaft zusammen und schwört sie auf seine Haltung ein. „Kein Widerspruch, wenn der Präsident etwas sagt“, erklärt der Coach. So besiegt er die Krise, bevor sie eine wird. Drei Monate später sind die Bayern Champions-League-Sieger.
Und als Hitzfeld nach seiner Burnout-Pause dabei hilft, den FC Bayern 2007 aus einem Tal zu führen, muss er sich nach einer großflächigen Personal-Rotation in seiner Aufstellung eine Belehrung durch Vereinsvorstand Karl-Heinz Rummenigge gefallen lassen. „Fußball ist keine Mathematik“, sagt der Funktionär. Der studierte Mathelehrer Hitzfeld schluckt. Es trifft ihn so, dass er sich gegen sein Naturell öffentlich wehrt. „Ich hoffe“, erklärt er, „dass ich das Fußball-Einmaleins kann.“Das bestreitet wohl nicht mal Rummenigge, der als ehemaliger Banklehrling ein ausgeprägtes Verhältnis zu Zahlen haben sollte.
Hitzfelds Beziehung zum Rechnen hat nur durch einen Zufall nicht in den Lehrerberuf geführt. Nach der Karriere als Spieler will er Anfang der 1980er mit den Fächern Mathematik und Sport an die Realschule. Weil sein Examen aber zu lange zurückliegt, verlangt das Schulamt eine zusätzliche Prüfung. Hitzfeld frisst den Ärger darüber ausnahmsweise nicht herunter. Er beschließt, professioneller Fußballtrainer zu werden. Gerechnet hat sich das. Hitzfeld ist ein reicher Mann geworden. Er hätte noch reicher werden können. 2015 bietet der chinesische Spitzenklub Guangzhou Evergrande dem Ruheständler 25 Millionen Euro für anderthalb Jahre. „Unmoralisch“, sagt Hitzfeld und lehnt ab. Prinzipien sind im wichtiger. Und die Gesundheit.
Ottmar Hitzfeld