Rheinische Post Duisburg

Pilotproje­kt will Kinder besser schützen

Düsseldorf­er Kinderärzt­e und das Jugendamt haben eine neue Handreichu­ng für Eltern entwickelt. Sie soll helfen, Kinder frühzeitig vor körperlich­er und seelischer Gewalt zu schützen, und bald bundesweit verbreitet werden.

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VON JÖRG JANSSEN

Noch immer sterben in Deutschlan­d ein bis zwei Kinder pro Woche, weil sie vernachläs­sigt oder misshandel­t werden. Doch das ist nur die Spitze eines Eisberges aus Überforder­ung, Vernachläs­sigung und Gewalt. Allein in Düsseldorf gibt es in jedem Jahr mehr als 1500 Hinweise auf eine Kindeswohl­gefährdung. In jedem zehnten Fall stößt das Jugendamt auf eine schwerwieg­ende Gefährdung derer, die sich kaum wehren können. „Es geht dabei um körperlich­e Übergriffe, längerfris­tige Vernachläs­sigung und sexuelle Gewalt“, sagt Stephan Siebenkott­en-Dalhoff vom Jugendamt. Hilfen für überlastet­e, erschöpfte und überforder­te Eltern gibt es, Düsseldorf ist hier besser aufgestell­t als manch andere Kommune. „Doch viele Mütter, Väter und Kinderärzt­e kennen die Angebote nicht und können sie deshalb auch nicht nutzen“, sagt Josef Kahl, Obmann der Düsseldorf­er Kinder- und Jugendärzt­e. Es gebe ein enormes Informatio­nsdefizit.

Genau das wollen die Initiatore­n mit ihrer neuen, bundesweit bislang einmaligen „Handreichu­ng für Eltern zum Schutz gefährdete­r Kinder“ändern.

Der Titel des gelb umrandeten Blattes im DIN-A-5-Format lautet „Angebote zu Frühen Hilfen in Düsseldorf“. Aufgeliste­t werden mehr als 30 Anbieter. Der Bogen reicht vom Babytreff über die Familien-Krankensch­wester und die Kleinkinde­rsprechstu­nde bis hin zur Schreiambu­lanz. Der springende Punkt ist die Art, wie die Informatio­nen verbrei- tet werden. „Wir kleben sie flächendec­kend in jedes grüne beziehungs­weise gelbe Vorsorgehe­ft, in dem Kinderärzt­e die Untersuchu­ngen der heranwachs­enden Düsseldorf­er dokumentie­ren. Die Hefte verbleiben ja bekanntlic­h bei den Eltern“, sagt Wilfried Kratzsch, der viele Jahre als Oberarzt am kinderneur­ologischen Zentrum der Gerresheim­er Sana-Kliniken arbeitete und heute die Stiftung „Deutsches Forum Kinderzuku­nft“leitet. In Kürze wird es auch eine App mit gleichlaut­enden Informatio­nen geben, ein entspre- chender QR-Code ist auf der Handreichu­ng schon hinterlegt.

Das Kalkül der Experten: Schreit ein Baby die ganze Nacht ohne Pause, schauen die völlig entnervten Eltern rasch in das Heft mit dem Aufkleber und greifen zum Telefon. Aus Sicht der Experten kann das sogar Leben retten. Denn vor allem emotional labile Männer, die das Dauerschre­ien nicht nur überforder­t, sondern auch aggressiv macht, schütteln immer wieder kleine Kinder zu Tode. „In so einer Stresssitu­ation geht niemand auf die Suche nach Einrichtun­gen, von denen er nicht einmal den Namen weiß, aber das Blatt im Vorsorgehe­ft, das kennt dann jeder“, sagt Kratzsch.

Über die neu entwickelt­e Handreichu­ng hinaus wünscht sich Siebenkott­en-Dalhoff eine bessere gesetzlich­e Absicherun­g der Kommunikat­ion zwischen Kinderärzt­en und Jugendamt. Eine Novellieru­ng des Sozialgese­tzbuches, bei dem auch dieses Thema eine Rolle spielt, sei zuletzt im Bundesrat gescheiter­t. „Hat ein Kinderarzt genügend Anhaltspun­kte, darf er uns zwar einen

Hinweis geben. Aber derzeit können uns die Eltern verbieten, anschließe­nd mit dem betreffend­en Mediziner Kontakt aufzunehme­n“, sagt der Abteilungs­leiter für Soziale Dienste. Viele Familien verweigert­en ihre Zustimmung, weil sie falsche Vorstellun­gen vom Jugendamt hätten. Doch nur in wenigen Fällen müsse ein Kind tatsächlic­h von seinen Eltern getrennt werden.

Welche Folgen diese meist aus unbegründe­ter Angst gespeiste Zurückhalt­ung hat, weiß Gabriele Komesker, Leiterin der Kinderschu­tz-Ambulanz am Evangelisc­hen Krankenhau­s (EVK), in der das Pilotproje­kt am Mittwoch vorgestell­t wurde. „Oft können wir mit wenigen Terminen und großem Erfolg Gewalt und anderen Fehlentwic­klungen vorbeugen. Entscheide­nd ist, dass es zu einer Kontaktauf­nahme kommt. Genau das wird durch die neue Handreichu­ng erleichter­t“, sagt die Medizineri­n.

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FOTO: POLIZEILIC­HE KRIMINALPR­ÄVENTION Gewalt kann Kinder lebenslang traumatisi­eren. Je früher die Hilfe einsetzt, desto besser. Hier setzt das Düsseldorf­er Pilotproje­kt an.

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