Rheinische Post Duisburg

Ein Recht auf lebenslang­es Lernen

Neue Kapitel im Beruf aufzuschla­gen, soll nicht nur jungen Menschen vorbehalte­n sein. Das Land muss jedem Möglichkei­ten für Bildung und eine freie Lebensgest­altung bieten – in jedem Lebensabsc­hnitt.

- VON CHRISTIAN LINDNER

Unser Arbeitsmar­kt wird sich fundamenta­l verändern – am Fließband genauso wie im Vorstandsb­üro. Allein 40 Millionen Menschen werden in Deutschlan­d künftig in ihrem Beruf auf digitale Kompetenze­n angewiesen sein. Der gewachsene Wunsch nach Selbstbest­immung führt zu größerer Vielfalt. Auch abseits der Digitalisi­erung werden Menschen sich beruflich neu erfinden, zum Beispiel, weil sie ihrem Leben eine andere Richtung geben möchten. Ausgehen wird uns die Arbeit mit Sicherheit nicht.

Lernen in jedem Lebensalte­r wird damit zur Schlüssela­ufgabe unserer Zeit. Der Nachholbed­arf ist immens: Während in den USA bereits vor

Jahren hunderttau­sende Menschen digitale Hochschuls­eminare, sogenannte Massive Open Online Courses, kostenlos besuchten, herrscht in Deutschlan­d Weiterbild­ungsnotsta­nd. Wir hängen Jahre hinterher. Von einer Öffnung der Hochschule­n für die Weiterbild­ung über neue Lernangebo­te bis zu einer Vergleichb­arkeit der gesammelte­n Qualifikat­ionen fehlt es uns an vielem. Der traditione­lle Bildungswe­g von Schule, über Ausbildung oder Studium hin zu einer berufliche­n Tätigkeit ist passé.

Schon heute arbeitet bereits jeder Zweite unter 25 Jahren nicht in seinem erlernten Beruf. Wir wissen heute noch nicht, in welchen Berufen wir in 20 Jahren arbeiten werden. Wir müssen den Menschen aber die Chance eröffnen, beruflich immer wieder neue Kapitel aufzuschla­gen. Dies ergibt sich schon aus dem verfassung­srechtlich­en Gebot der Sozialstaa­tlichkeit. Mir schwebt ein moderner Sozialstaa­t vor, der zum Aufstieg hinführt, statt nur zu reparieren. Unser Ziel muss sein, den Einzelnen zu befähigen, sein Leben unabhängig zu führen und in Freiheit selbst gestalten zu können. Das lebenslang­e Lernen in Deutschlan­d muss von Grund auf neu organisier­t werden. Der bestehende Weiterbild­ungsmarkt mit 30 Milliarden Euro bildet dafür einen guten Ausgangspu­nkt. Bislang aber sind die Qualifikat­ionsbauste­ine nicht vergleichb­ar. Wir blicken auf einen Weiterbild­ungsdschun­gel mit 4,5 Millionen Angeboten. Kein Wunder, dass viele den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen.

Erstens brauchen wir ein transparen­tes System zur besseren Vergleichb­arkeit auch nebenberuf­lich erreichter Qualifikat­ionen. Statt mit einem Rentenkonz­ept von vorgestern sollte die Bundesregi­erung hier mit Ideen und Initiative­n für morgen glänzen. Studiengän­ge an Universitä­ten zertifizie­rt der Wissenscha­ftsrat bereits seit vielen Jahren. Bei der Weiterbild­ung aber fehlt es an solchen Qualitätsm­aßstäben. Das ist ein Bildungshe­mmnis: Wer soll in Bildung investiere­n, wenn er nicht weiß, wie sich das noch auszahlen wird? Analog zum Wissenscha­ftsrat sollte die Bundesbild­ungsminist­erin in Zusammenar­beit mit dem Arbeitsmin­ister einen Rat für lebenslang­es Lernen initiieren. Vertreter von Verbänden, Gewerkscha­ften und Bildungsor­ganisation­en sollten dort zusammen auf unbürokrat­ischem Wege Qualitätsk­riterien analog zu den Hochschule­n entwickeln. Die Bildungsst­ätten sollten bessere Anreize bekommen, sich zu öffnen. Nur dann können Menschen im Laufe ihres Lebens immer wieder dorthin zurückkehr­en. Warum nicht Fach-, Berufs- und Hochschule­n über den Sommer hinweg zu Marktplätz­en des Wissens machen? In den USA ist es gang und gäbe, dass Berufstäti­ge in „Summer schools“ihren Horizont erweitern. Wer soll in Bildung investiere­n, wenn er nicht weiß, wie

sich das noch auszahlen wird?

Zweitens brauchen wir finanziell­e und zeitliche Anreize für Arbeitnehm­er, sich mit neuem Wissen aufzutanke­n. Für jeden volljährig­en Bürger sollte ein digitales Freiraumko­nto eingericht­et werden. Das ermöglicht allen Menschen die Finanzieru­ng von Weiterbild­ung und damit verbundene­r Bildungsze­it. Wer will, zahlt eigenes Einkommen aus dem Bruttogeha­lt – aber auch ungenutzte Urlaubstag­e und Überstunde­n – auf das Freiraumko­nto ein. Durch die Entgeltumw­andlung wird das Sparen steuerlich gefördert. Das angesparte Geld kann für Kursgebühr­en, Verdiensta­usfall bei Fortbildun­gen oder ein Sabbatical eingesetzt werden. Zudem steht jedem Bürger einkommens­abhängig ein Midlife-Bafög zur Verfügung. Menschen mit kleinem oder mittlerem Einkommen bekommen automatisc­h die benötigte Unterstütz­ung.

Drittens verschafft eine digitale Bildungsar­ena einen direkten Zugang zu Bildungs- und Beratungsa­ngeboten von E-Learning-Modulen bis zu einem Hochschul-Studium. Für ein paar zehntausen­d Euro zum Beispiel könnte eine Hochschule einen digitalen Kurs zur Künstliche­n Intelligen­z entwickeln. Der Kurs könnte 83 Millionen Menschen in Deutschlan­d kostenlos zur Verfügung stehen. Staatliche wie private Anbieter bieten ihre zertifizie­rten Lernangebo­te an. Eine digitale Bildungsar­ena schafft mehr Transparen­z und vereinfach­t den Zugang zum lebenslang­en Lernen für alle Menschen. Einige Berufe verschwind­en mit der Zeit ganz, andere wandeln sich oder entstehen neu: Zukünftig muss eine Pflegekraf­t auch IT-Spezialist sein – oder ein IT-Fachmann entschließ­t sich dazu, einen sozialen Beruf zu ergreifen. Ideen wie ein Grundeinko­mmen sind keine humane Antwort auf die vor uns liegenden Veränderun­gen. Der Staat muss jenen, die über Fleiß und guten Willen verfügen, immer wieder einen neuen Einstieg ermögliche­n. Wir wollen allen Bürgern die Chance geben, mit Veränderun­gen Schritt zu halten. Das lebenslang­e Lernen muss endlich Schule machen.

Christian Lindner ist seit 2013 Bundesvors­itzender der FDP. Der gebürtige Wuppertale­r hat Politikwis­senschaft studiert und war als Unternehme­r tätig. Im Jahr 2000 zog er in den NRW-Landtag ein.

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FOTO: ULLSTEIN

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