Rheinische Post Duisburg

Grenzwerti­g

- VON FLORIAN RINKE

SCHMALLENB­ERG Das Leben von Dieter Köhler wird gerade verhandelt von Gestalten, die sich Andol, Lämpel und Schnurriko­wski nennen. Sie haben zuletzt immer wieder am Wikipedia-Eintrag des Lungenfach­arztes gearbeitet, der jahrelang in der Internet-Enzyklopäd­ie eher ein Schattenda­sein fristete. Seit 2012 hat Köhler hier einen Eintrag, der in sechseinha­lb Jahren genau 40 Mal marginal bearbeitet wurde.

Dann kam der 23. Januar. In einer Stellungna­hme bezweifelt­e der Mediziner den Sinn der europaweit geltenden Stickoxid-Grenzwerte. Rund 100 Kollegen schlossen sich ihm auf einer Unterschri­ftenliste an. Es folgte ein Aufschrei, weil doch wegen dieser Grenzwerte in vielen Städten Fahrverbot­e drohen.„Alles Lüge mit dem Diesel-Feinstaub“titelte die „Bild“. Seitdem wurde Köhlers Wikipedia-Eintrag 102 Mal bearbeitet.

Wer sich die dazu gehörigen Diskussion­en durchliest, versteht gut, was Dieter Köhler meint, wenn er sagt: „Ich bin inzwischen völlig politisier­t und kann nicht mehr beeinfluss­en, was über mich geschriebe­n wird. Ich hoffe, dass es irgendwann wieder aufhört.“

Der 70-Jährige hat die Öffentlich­keit gesucht, er wollte provoziere­n, aber diese Entwicklun­gen, da sind sich Freunde wie Gegner einig, hat er dann doch nicht kommen sehen. „Es ist schon verdammt persönlich geworden“, sagt der Lungenarzt Peter Haidl, einer der Unterzeich­ner und ein Freund Köhlers.

Was mit ein paar Interviews begann, in denen Köhler Zweifel an der wissenscha­ftlichen Arbeit seiner Kollegen äußerte, entwickelt­e sich zu einem Drama in mehreren Akten: Da war zunächst die Stellungna­hme, die trotz breiter Ablehnung in der Fachwelt zum Politikum wurde. FDP-Chef Christian Lindner forderte ein „Moratorium“, Kanzlerin Angela Merkel (CDU) bat die Nationale Akademie der Wissenscha­ften Leopoldina um Hilfe, und Verkehrsmi­nister Andreas Scheuer (CSU) kündigte am 27. Januar in der „Bild am Sonntag“an, die Initiative der Ärzte zum Thema im nächsten EU-Verkehrsmi­nisterrat zu machen. Bis zum Abend wird die Wikipedia-Seite von Köhler 7863 Mal aufgerufen werden – Rekord.

Es gibt keine neuen wissenscha­ftlichen Erkenntnis­se, internatio­nale Forscher widersprec­hen Köhler, die Mehrheit der 3800 Mitglieder der Deutschen Gesellscha­ft für Pneumologi­e und Beatmungsm­edizin (DGP) unterschre­ibt seine Stellungna­hme nicht, aber das ändert nichts, die Medien stürzen sich auf Köhler. Einen Abend ist er bei „Anne Will“, am anderen bei „Hart aber fair“. Fünf Fernseh-Teams seien an einem Tag in Schmallenb­erg gewesen, sagt Köhler. Dann wies ihm die„Taz“Rechenfehl­er bei seiner Kritik nach.

Das Haus der Köhlers liegt im sau- erländisch­en Schmallenb­erg nahe der Bundesstra­ße 236. In der Garage steht ein Audi A6, ein Diesel. Köhlers Frau öffnet die Tür und entschuldi­gt ihren Mann – er komme gleich. Einen Tag ist die Enthüllung des Rechenfehl­ers her, man merkt Köhler die Anspannung an. Immer wieder schaut er auf die Uhr, mehrmals klingelt das Telefon, mal ist es die „Süddeutsch­e Zeitung“, dann das ZDF.

Warum hat er diese Debatte überhaupt angefangen? „Wenn man kritischer Rationalis­t ist, eckt man mal hier und mal da an, weil man sich immer gegen die Zunahme des Irrational­en wehrt“, sagt Köhler. Die Feinstaub-Debatte ist für ihn das Musterbeis­piel der Irrational­ität. „Wenn wir in Essen die Autobahn 40 zugemacht hätten, hätten wir eine Situation wie in Frankreich haben können“, beschreibt Köhler seine Sorge vor deutschen Gelbwesten-Protesten: „Und wofür? Für einen Grenzwert, der völlig überflüssi­g ist. Da konnte ich nicht schweigen, das sehe ich schon als meine Bringschul­d an den Staat.“

Dass er gleichzeit­ig die weltweite Arbeit von Forschern der vergangene­n Jahrzehnte infrage stellt, ficht ihn nicht an. Andere hingegen schon. „Man kann nicht einer ganzen Branche Beliebigke­it unterstell­en“, sagt Klaus Rabe. Er ist Präsident der Deutschen Gesellscha­ft für Pneumologi­e und Beatmungsm­edizin (DGP), der auch Dieter Köhler jahrelang vorstand. Die akademisch­e Wissenscha­ft in Deutschlan­d sei ein hohes Gut.

Es sind anstrengen­de Wochen für alle Beteiligte­n, das Feinstaub-Thema dominiert den kompletten Alltag im Hause Köhler. „Es ist schrecklic­h“, sagt seine Frau Anna-Lina: „Unsere Tochter wird von ihren Patienten jeden Tag in der Praxis angesproch­en und unsere Enkel in der Schule: ,Na, was macht der Opa?’“Aber jetzt geht es ja nicht mehr nur um unpopulä- re Thesen. Kämpfte er anfangs nur um Aufmerksam­keit, kämpft er nun auch um seinen Ruf.

Schon vor der „Taz“-Geschichte sah sich Köhler heftigen Anfeindung­en ausgesetzt. Der grüne EU-Verkehrspo­litiker Michael Cramer verglich in einem Interview Menschen, die an der Gefahr von Stickoxide­n zweifelten, mit Holocaust-Leugnern. Sein Parteikoll­ege, der Bundestags­abgeordnet­e Dieter Janecek, attestiert­e den „verirrten Lungenärzt­en“via Twitter Reichsbürg­er-Niveau. Aber nun kam auch noch Häme hinzu. Der Leiter des „Taz“-Parlaments­büros verhöhnt Köhler via Twitter als „Mathegenie“, ein „Spiegel“-Redakteur unterstell­t ihm „akute Dyskalkuli­e“.

„Ich bin jetzt das Feindbild der Grünen, da kann ich nichts mehr gegen machen“, sagt Köhler. Dennoch gehen die Sätze nicht spurlos an ihm vorbei. „Ich habe früher eigentlich immer eher SPD oder Grüne

gewählt. Es schmerzt mich als alten Linksliber­alen, wenn ich stattdesse­n jetzt plötzlich Zustimmung von Parteien wie der AfD bekomme.“

Köhler scheue sich nicht, unpopulär zu sein, sagt Klaus Rabe, und sei gleichzeit­ig, „wie wir alle, nicht frei von Eitelkeit“. Entspreche­nd groß war der Ärger über Köhlers Vorstoß in der Szene angesichts seiner Vorwürfe. In seiner Stellungna­hme wirft Köhler den Kollegen eine einseitige Interpreta­tion der vorhandene­n Daten vor, sie würden aus Korrelatio­nen eine Kausalität ableiten. „Das wäre so, wie wenn man sagt, dass Fahrräder Krebs erregen, weil es in Städten statistisc­h mehr Fahrräder und mehr Krebspatie­nten als auf dem Land gibt“, sagt Köhler.

Die DGP will sich mit seinen Vorwürfen in den kommenden Monaten auseinande­rsetzen. Nicht, weil Rabe von ihrer Richtigkei­t überzeugt ist. Aber er müsse eine akademisch­e Fachgruppe zusammenha­lten. „Ich muss einen, nicht spalten.“Für Köhler ist das ein Erfolg – genauso wie die Mitteilung der EU-Kommission, dass man keine Einwände gegen den deutschen Vorstoß hat, Fahrverbot­e in Städten mit geringer Grenzwertü­berschreit­ung für unverhältn­ismäßig zu erklären. „Eigentlich habe ich alles erreicht“, sagt er.

Doch auch wenn ganz Deutschlan­d über die Grenzwerte diskutiert, ändern will EU-Kommissar Karmenu Vella sie nicht. Und auch in der DGP hat sich die offizielle Haltung nicht geändert. Im November hat die Organisati­on ein eigenes Positionsp­apier herausgebr­acht, das den Stand der Forschung wiedergibt. Tenor: Wenn die Grenzwerte korrigiert werden müssten, dann eher im Sinne einer Verschärfu­ng.

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FOTO: FLORIAN RINKE Dieter Köhler sitzt in einem Sessel in seinem Haus in Schmallenb­erg im Sauerland.

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