Druck auf NRW-Innenminister wächst
Im Missbrauchsskandal Lügde sollte ein Polizei-Anwärter das Beweismaterial auf bereiten. Herbert Reul verspricht mehr Transparenz.
DÜSSELDORF Im Missbrauchsskandal von Lügde gerät NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) immer stärker unter Druck. Am Freitag wurde ein weiteres pikantes Detail in dem Fall bekannt. Nach Recherchen unserer Redaktion war ein Polizist in Ausbildung mit der Auswertung von Beweismaterial beauftragt worden. Das Innenministerium machte keine Angaben dazu, ob neben dem Kommissaranwärter weitere Ermittler mit der Sichtung der großen Datenmengen betraut gewesen seien. Reul (CDU) sagte dazu: „Dieses Vorgehen verstößt zwar nicht gegen Dienstvorschriften, ich halte es aber trotzdem für unverantwortlich gerade in einem derart anspruchsvollen und sensiblen Fall.“
Zurzeit sitzen drei mutmaßliche Täter wegen des Verdachts des schweren sexuellen Missbrauchs von 31 Kindern im Alter zwischen vier und 13 Jahren in Untersuchungshaft. Teilweise sollen sie die Taten auf einem Campingplatz in Lügde bei Lippe gefilmt und das kinderpornografische Material weiterverbreitet haben.
Reul hatte am Donnerstag einräumen müssen, dass in dem Fall 155 Datenträger mit Beweismaterial verschwunden sind. Der Verlust umfasst 0,7 von insgesamt 15 Terabyte sichergestelltem Datenmaterial. Sonderermittler sind im Einsatz, um das Verschwinden der Beweise aufzuklären. Zudem wird gegen zwei Lipper Polizisten sowie gegen Mitarbeiter örtlicher Jugendämter ermittelt. Bereits 2016 hatte es Hinweise auf einen der Täter gegeben, denen möglicherweise nicht nachgegangen wurde.
Schließlich wird Reul noch erklären müssen, warum das Verschwinden des Beweismaterials aus einer Asservatenkammer der Lipper Polizei so spät bemerkt und noch später an das Innenministerium gemeldet wurde: Am 20. Dezember 2018 wurde der letzte Kontakt von Beamten mit den Datenträgern dokumentiert. Am 30. Januar fiel auf, dass sie verschwunden sind, aber erst am 18. Februar erfuhr der Minister davon.
Im Plenum des Landtags versuchte Reul am Freitag einen Befreiungsschlag. Er versprach, alles für eine lückenlose Aufklärung des Missbrauchsfalls und des Verschwindens der Beweise zu tun: „Das ist meine verdammte Pflicht den 31 missbrauchten Kindern gegenüber“, sagte er. Einen ersten Bericht der Sonderermittler erwarte er schon in der kommenden Woche.
Um Transparenz herzustellen, will Reul ein neues parlamentarisches Gremium etablieren: eine Art ständiger Konferenz mit Vertretern sämtlicher Parteien, die unmittelbar über alle neuen Ermittlungsstände informiert werden sollen. „Ich will nicht, dass wir uns jetzt mit Gremienhuberei aufhalten“, sagte Reul. Damit will er der Opposition den Wind aus den Segeln nehmen, die eine Sondersitzung des Innenaus- schusses angekündigt und auch schon einen Parlamentarischen Untersuchungsausschuss ins Gespräch gebracht hat. Zudem will Reul die „unterschiedlichen Zuständigkeiten in den Ministerien besser verknüpfen“.
Die Opposition wirft Reul vor, seinen „Geschäftsbereich nicht im Griff“zu haben, wie der innenpolitische Sprecher der SPD, Hartmut Ganzke, sagte. Die stark zeitverzögerte Meldung der Lipper Polizei an das Innenministerium bezüglich der verschwundenen Beweise sei auch dem Innenminister anzulasten: „Als Chef des Innenministeriums müsse er dafür Sorge tragen, dass er alle Informationen rechtzeitig vorliegen habe. „Was sollen die Sonderermittler denn jetzt ermitteln, was nicht schon längst hätte ermittelt werden müssen?“, fragte er Reul. Grünen-Politikerin Josefine Paul schlug in die gleiche Kerbe und forderte als Konsequenz aus dem Fall eine landesweite Personalbedarfsanalyse sowie Fall-Obergrenzen für jedes der 186 Jugendämter in NRW.
Kritik bekam Reul auch von der Polizei zu hören. Der NRW-Vorsitzende des Bundes deutscher Kriminalbeamter (BdK), Sebastian Fiedler, warf ihm vor, trotz mehrfacher Warnung nichts gegen den personellen Notstand bei der Polizei in Lippe unternommen zu haben. „Ich selbst habe den Minister schon oft darauf hingewiesen. Und es gab offene Briefe. Da bekommt man warme Worte, aber es passiert nichts“, sagte Fiedler der „Westdeutschen Zeitung“.
Hinweise darauf, dass die Datenträger in der Lipper Asservaten-
kammer gestohlen wurden, hat die Detmolder Staatsanwaltschaft bislang allerdings nicht. Sie geht von einem „nachlässigen Umgang“mit den Asservaten aus. Dennoch werde auch die Möglichkeit eines Diebstahls nicht ausgeschlossen.
NRW-Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) bedankte sich im Plenum für die weitgehend sachliche Debatte über den Fall, der „nicht nur in NRW, sondern überall beobachtet“werde, so Laschet.
Die vergleichsweise moderaten Angriffe der Opposition auf Reul könnten allerdings täuschen. Die Opposition will sich ihren Generalangriff auf Reul offenbar für die nächste Sitzung des Innenausschusses aufsparen.
Reul hatte sich bereits im Oktober für einen Polizeiskandal entschuldigen müssen. Damals hatten die Beamten aufgrund einer Verwechslung einen Syrer inhaftiert, der danach in seiner Zelle verbrannte. Die Beamten hatten die Identität des Syrers nicht ausreichend überprüft.