„Woherwohin?“als Schicksalsfrage
Der Künstler Jochen Gerz, dessen spektakuläre Kunstaktion „The Walk“noch bis Mai in Duisburg zu erleben ist, diskutierte im Lehmbruck-Museum über das weite Themenfeld Migration und Mobiliät.
Zu einem Gespräch zwischen dem Künstler Jochen Gerz, der Texterin Judith Funke und Volker Heins vom Kulturwissenschaftlichen Institut Essen (KWI) lud das Lehmbruck-Museum am Donnerstagabend zu sich in die „plastikBAR“ein. Die Diskussion war Teil vieler Rahmenveranstaltungen des Museums zu Gerz‘ noch bis zum 5. Mai laufender Ausstellung „The Walk – keine Retrospektive“.
Überschrieben war die Veranstaltung mit der Frage „Woherwohin?“, die Gerz bereits 2004 beim internationalen „Bodenseefestival“bewegte. Dort stellte er zwei Fragen an die
„Wenn es mir irgendwo nicht mehr gefällt, haue
ich einfach ab“
Jochen Gerz
Künstler
deutschen, österreichischen und schweizerischen Bewohner dieser Region: „Woher kommst du?“und „Wohin willst du?“. Diese beiden Fragen wurden in regionalen Tageszeitungen abgedruckt. Aus den über 2000 eingegangenen Antworten entstand eine Weltkarte, die tatsächliche und erträumte Migrationsbewegungen mit Herkunftsorten und Zielorten dokumentierte und somit für ein vielfältiges Porträt einer ländlichen Region sorgte.
Migration und Mobilität sind für Gerz ein lebenslanges Thema. Volker Heins bezeichnet ihn deshalb auch als Migrant: „Er ist Auswanderer und Einwanderer zugleich“, sagte er. Seine Biografie lege darüber ebenso Zeugnis ab wie seine fortwährende Beschäftigung mit diesem Thema. Gerz: „Es ist schon ein Privileg so zu leben, wie ich lebe – ständig unterwegs. Ich bin immer auf der Suche und frage auch mich stets: Wo kommst du her? Wo willst du hin?“So ziehen sich genau diese Fragen sowohl wortwörtlich als auch im übertragenen Sinne durch sein aktuelles Kunstprojekt „The Walk“im Duisburger Lehmbruck-Museum, dort, wo er 1975 seine erste große Einzelausstellung bekam, wie Museumsdirektorin Söke Dinkla zu berichten wusste.
Der international renommierte Konzeptkünstler ist 1940 in Berlin geboren. Seine Jugend hat er im Rheinland verbracht und hier die Grundlagen für einen ungewöhnlichen Weg vom literarischen zum künstlerischen Schaffen gelegt. Ein Großteil seines Lebens hat er in Frankreich verbracht (1966 bis 2007). Seine künstlerischen Arbeiten führten ihn nach Venedig (Biennale), nach Kassel (documenta), nach Auschwitz und Dachau, nach Basel sowie in die damalige Sowjetunion und andere Teile der Welt, darunter Nordamerika. Seit 2007 lebt Gerz in Irland. „Wenn es mir irgendwo nicht mehr gefällt, haue ich einfach ab“, lässt er salopp das Publikum wissen.
Liest man sein gewaltiges Textmonument an den Glasscheiben des Museums, welches sein Leben von 1940 bis 2010 mit der dazugehörigen Zeitgeschichte verbindet, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass ihm Migration und Mobilität sozusagen in die Wiege gelegt und auf den Leib geschrieben wurden. „Der Vater meines Vaters, mein Großvater also, war Italiener, und die Mutter meiner Mutter, sprich meine Oma, kam aus Frankreich“, erzählte Gerz. „Dazu“, fuhr er fort, „sind meine Arbeiten von einem ständigen Unterwegs-sein geprägt, stets begleitend von der Frage, wie konnte es nur passieren, dass eine Demokratie zur Diktatur wurde“, womit er die Epoche von der Weimarer Republik zum nationalsozialistischen Deutschland meinte.
Judith Funke meinte beim Studium des Textes ein deutliches Hadern von Gerz mit dem Kunstbetrieb und dem Kunstmarkt herausgelesen zu haben. So stehe dort unter anderem, „dass Kunst viel eher Kaufen und Verkaufen bedeutet als Besitzen, sogar mehr als Schaffen“und dass Kunst nur noch Bargeld an der Wand sei. Gerz darauf mit dem ihm eigenen Humor: „Entweder man hat es als Künstler geschafft, Kunst mit Geld verdienen in Einklang zu bringen, oder nicht. Dazu hat Kunst etwas Einzigartiges: Sie muss nämlich keine Antworten geben, sie stellt Fragen – und dafür wird man sogar noch bezahlt.“