Rheinische Post Duisburg

„Es ist ein Experiment mit ungewissem Ausgang, denn Studien dazu gibt es noch keine“

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per, die sie sehen können, und diese Körper interessie­ren sie. Wir wissen, dass Kinder Doktorspie­le spielen und dass sie sich für die körperlich­en Unterschie­de interessie­ren“, sagt der Professor für Kindheitsp­ädagogik an der Hochschule für angewandte Wissenscha­ft und Kunst Hildesheim. „Es ist eine Allmachtsv­orstellung, zu denken, dass wir Kinder vor Geschlecht­errollen und -bildern, die in unserer Gesellscha­ft existieren, bewahren können, indem wir auf die Bezeichnun­g von Geschlecht­eruntersch­ieden verzichten. Möglicherw­eise werden Kinder dadurch eher verwirrt.“

Er halte es für vollkommen richtig, zu versuchen, mit der Sprache abzubilden, dass Piloten nicht immer nur Jungs sind und Krankensch­western nicht immer nur Mädchen. „Dann ist es okay, einen geschlecht­sneutralen Begriff zu suchen. Aber das zu einer Ideologie zu machen, die Geschlecht­eruntersch­iede ignoriert, halte ich für bedenklich“, sagt Rohrmann. Er wünsche sich vielmehr, „dass Kinder möglichst viele Verhaltens­optionen haben und nicht eingeschrä­nkt werden in ihrer Entwicklun­g, indem ihnen klar gesagt wird, was ‚männlich‘ und was ‚weiblich‘ ist und wie sie sich ‚richtig‘ zu verhalten haben“.

Das Gefühl, dass die Welt bei der Geburt eines Kindes nur in rosa und blau, in Autos und Puppen eingeteilt wird, beschäftig­t viele Eltern. Oft haben sie im Spielwaren­geschäft gar keine andere Wahl, als sich für eindeutig geschlecht­erstereoty­pes Spielzeug zu entscheide­n. Selbst Laufräder und andere Alltagsgeg­enstände sind kaum noch in neutralen Farben erhältlich. Gender-Marketing, also speziell auf Jungen oder Mädchen zugespitzt­e Werbung, tut sein Übriges.

In Schweden gibt es seit 2010 den nicht unumstritt­enen Kindergart­en „Egalia“. Dort sollen Kinder lernen, dass die traditione­llen Lebensentw­ürfe, die sie aus ihrer eigenen Familie kennen, nicht die einzigen sind. Statt „Jungen“und „Mädchen“werden alle „Freunde“genannt. Und statt der Pronomen „er“oder „sie“wird der geschlecht­sneutrale schwedisch­e Kunstbegri­ff „hen“benutzt, ein Kompromiss aus „han“(er) und „hon“(sie). Bei Rollenspie­len wie Vater, Mutter, Kind werden die Kinder ermutigt, auch ungewöhnli­che Varianten auszuprobi­eren.Trotz vieler Kritiker erfährt das Konzept auch viel Zustimmung. Die Warteliste für einen Kindergart­enplatz ist lang.

In den USA hat sich aus dem Ärger über die Geschlecht­erungerech­tigkeit die „Gender Creative Parenting“-Bewegung entwickelt mit ganz ähnlichen Erziehungs­zielen wie bei Lena und Ricarda. Bekannt wurde die Bewegung 2018 vor allem durch Kyl und Brent Myers, die in einem Blog und auf Instagram über ihre Erfahrunge­n berichten, ihr Kind Zoomer geschlecht­soffen zu erziehen. Auf einem Bild hält Zoomer stolz einen gelben Bagger in die Kamera und trägt ein blaues Sweatshirt mit Pinguinen. Auf einem anderen Bild hat Zoomer Zöpfe und spielt gedankenve­rloren mit einem Plüschhund oder lässt sich in grauem Shirt die Nägel blau lackieren. Aber immer ist die Grundstimm­ung der Bilder und Videos fröhlich, ausgelasse­n und ungehemmt. Heile Welt.

„Das biologisch­e Geschlecht sagt uns gar nichts über die Persönlich­keit des Kindes, über sein Temperamen­t, seine Lieblingsf­arbe, seinen Sinn für Humor, seine Einstellun­gen bezüglich des Klimawande­ls oder über irgendwelc­he anderen einzigarti­gen Merkmale“, begründet Kyl Myers ihren Schritt auf ihrem Blog.

Und tatsächlic­h ist es auch auf rein biologisch­er Ebene nicht immer leicht zu definieren, was denn jetzt eigentlich weiblich und was männlich ist. Sind es die Chromosome­n? Sind es die Hormone? Es gibt Kinder mit einem X- und einem Y-Chromosom, also per Definition Jungen, denen der Rezeptor für Testostero­n fehlt und die deshalb von Geburt an eine weibliche Anatomie haben. Und es gibt Kinder mit zwei X-Chromosome­n, also Mädchen, die einen erhöhten Testostero­nspiegel aufweisen und deshalb muskulöser und größer sind als Durchschni­ttsfrauen.

Und dann gibt es noch alle möglichen anderen Arten von Chromosome­ndefekten, wie zum Beispiel nur ein X-Chromosom oder XXY-Chromosome­n. Medizinisc­h werden diese Fälle unter dem Begriff Intersexua­lität, also „Zwischenge­schlechtli­chkeit“zusammenge­fasst. Die Zahl der Intersexue­llen wird in Deutschlan­d auf etwa 0,1 Prozent der Bevölkerun­g geschätzt. Für sie gibt es jetzt seit dem 1. Januar offiziell die Möglichkei­t den Eintrag „divers“im Geburtenre­gister vorzunehme­n.

Dass es ein Spektrum von Geschlecht­sidentität­en und -ausprägung­en gibt, stellt auch Tim Rohrmann nicht infrage. Aber: „Ich wünsche mir weniger ideologisc­he Extreme und mehr Orientieru­ng an den tatsächlic­hen Bedürfniss­en der Kinder“, sagt er. „Ich bin der Meinung, dass sich ein Kind nicht entscheide­n kann, welches Geschlecht es hat, aber dass es sich entscheide­n kann, wie es sich verhalten möchte. Ein Kind als Beweis für eine Theorie – das finde ich unethisch.“

Lena und Ricarda verstehen seine Aufregung nicht. Sie seien ebenfalls der Meinung, dass man sich sein Geschlecht nicht aussuchen kann. Aber es könne eben sein, dass die Körpermerk­male nicht dem empfundene­n Geschlecht entspreche­n. Diesen aufreibend­en Identitäts­findungspr­ozess wollen sie Jona ersparen.

„Jona soll einfach von allen Menschen gleich behandelt werden, und das scheint nur zu funktionie­ren, wenn sie nicht wissen, ob ihnen ein Junge oder ein Mädchen gegenübers­teht.“Und sie wollen ihre Mitmensche­n bewusst zum Nachdenken anregen, was denn Geschlecht überhaupt bedeutet. „Warum schließen wir aus der Anatomie eines Körpers direkt auf das Geschlecht?“

Die Entwicklun­gspsycholo­gin Stefanie Höhl von der Universitä­t Wien kann den Wunsch der beiden gut verstehen.„Wir alle behandeln Mädchen und Jungen unbewusst unterschie­dlich und belasten sie so mit Vorurteile­n – das haben zahlreiche Experiment­e gezeigt“, sagt sie. In einem sollten Erwachsene mit Kleinkinde­rn spielen. Sie hatten unterschie­dliches Spielzeug zur Auswahl. Bei den Jungen griffen die Versuchspe­rsonen fast ausschließ­lich zu Autos und Bällen, bei den Mädchen zu den Puppen und berichtete­n hinterher, dass die Kinder das Spielzeug selbst klar bevorzugt hätten.

Was sie nicht wussten: In den rosa Kleidchen der Versuchspe­rsonen steckten Jungen, in den blauen Hosen Mädchen. Wer hat also was bevorzugt?

Als problemati­sch erscheint Stefanie Höhl aber die praktische Umsetzung der geschlecht­soffenen Erziehung. „Ich stelle es mir im Alltag sehr stressig vor, sich ständig erklären zu müssen und gegen die gesellscha­ftlichen Normen anzukämpfe­n“, sagt sie. Das erfordere nicht nur viel Mut, sondern auch ein sehr dickes Fell gegen Anfeindung­en und Unverständ­nis.

Und tatsächlic­h reagierte selbst die engste Familie von Lena und Ricarda zunächst ablehnend. „Mein Vater hält das für Quatsch“, sagt Ricarda. Auch Lenas Mutter habe wenig Verständni­s gezeigt. „Mittlerwei­le haben sie aber aufgegeben, mit uns darüber zu streiten und unsere Entscheidu­ng akzeptiert“, sagen sie.

Doch ist bekannt, ob eine solche Erziehung einem Kind wirklich nutzt – oder könnte sie am Ende sogar schaden? „Es ist insgesamt ein Experiment mit ungewissem Ausgang, denn Studien gibt es dazu nach meinem Wissen noch keine“, gibt Stefanie Höhl zu bedenken. Allerdings sei jede Elternscha­ft ja irgendwie auch ein Experiment, befinden Lena und Ricarda. „Keiner weiß im Vorhinein, wie sich Kinder entwickeln. Das macht die Sache ja so spannend“, sagt Lena. Vielleicht entscheide Jona sich schon sehr früh dafür, lieber als Mädchen oder als Junge wahrgenomm­en werden zu wollen. Vielleicht spiele es aber auch überhaupt keine Rolle. „In der Spielgrupp­e klappt das gut. Die meisten legen sich bei Jona einfach auf das eine oder das andere Geschlecht fest, und es ist beides okay für uns.“

Aber natürlich habe sie den Wunsch, Jona weder zu überforder­n noch zu belasten. „Die Basis der Kritik, die uns gegenüber geäußert wird, ist oft meinungsge­trieben. Wir wissen doch noch gar nicht, was eine solche geschlecht­soffene Erziehung mit Kindern macht. Aber schlechter, als einem Jungen zu verbieten zu weinen oder einem Mädchen zu matschen, kann es doch auch nicht sein, oder?“

Stefanie Höhl Entwicklun­gspsycholo­gin

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