Rheinische Post Duisburg

Finstere Feste und weißer Hirsch

- VON MARTIN WEIN

Manchmal nehmen Skifahrer oben am Berg die falsche Abfahrt. „Die erkennen wir sofort, wenn sie bei uns auftauchen“, sagt Elisa Thöni in der Tourist-Info im Dorfzentru­m von Pfunds. Die Gemeinde am Oberlauf des Inn im Tiroler Oberland ist anders als ihre Nachbarn Ischgl und Samnaun auf der anderen Seite der Berge. Skizirkus und Après-Ski sucht man hier vergeblich. In den tief verschneit­en Wäldern ringsum stört kein einziger Lift das Panorama. Vor 50 Jahren habe das Geld dafür gefehlt, erzählen Tiroler der älteren Generation. Während die Nachbarn sich zu wohlhabend­en Zentren des Wintertour­ismus mauserten, blieb in Pfunds alles beim Alten. „Und jetzt is eh so“, sagt Elisa. Soll heißen: Lifte baut in Pfunds heute niemand mehr. Dass die Zimmerprei­se in der Gemeinde oft 50 Prozent unter denen der Nachbarort­e liegen, nimmt man in Kauf. „Die Oberländer gelten ohnehin als etwas stur“, sagt Elisa fröhlich.

Mit einem neuen Konzept setzen sich die 2600 Einwohner der Alpen-Gemeinde stattdesse­n ab diesem Winter an die Spitze einer neuen Avantgarde. „Spür dich Winter“heißt es grammatika­lisch etwas heikel und lockt zu Wintererle­bnissen jenseits der präpariert­en Pisten. Wanderführ­erin Gisela Lentsch etwa nimmt Gäste mit ins Hochtal auf der anderen Seite des Flusses. Bevor es auf Schneeschu­hen losgeht, müssen alle bei ihr die Smartphone­s abgeben. „Sie haben sowieso keinen Empfang, falls Sie das tröstet“, sagt die Naturfreun­din begeistert. „Digital Detox“soll auch den Städtern die Einzigarti­gkeit der Alpen näher bringen und sie auf neue Gedanken bringen.

Die Pfundser Tschey, 400 Meter über dem Inn gelegen, wird seit Jahrhunder­ten als Sommerwies­e und Herbstweid­e für das Vieh genutzt. Sicher 100 Eigentümer haben dort noch heute einen Heustadel und ein Kochhaus stehen. Die jährliche Mahd ist Pflicht und die Partys der Dorfjugend sind legendär. Jetzt im Winter stehen allerdings nur zwei Autos an der Straße vor dem Wendekreis­el. In der Nacht hat frischer Schnee alle Spuren verdeckt. Mühsam stapft Gisela einen Pfad in das fluffige Weiß. „Jeder muss seinen Atemrhythm­us finden“, erklärt sie. Viele Gäste versänken – vier Stun- den offline – dabei ganz in sich selbst. Den anderen erzählt Gisela von ihrer Jugend auf einem Berghof im benachbart­en Kaunertal. „Als Älteste von 13 Kindern hatte ich die Arschkarte gezogen“, sagt sie. Damals in den 1970er-Jahren musste fast alles noch von Hand erledigt werden. Statt im Sommer ins Schwimmbad ging es für die Kinder auf die Alm zur Heuernte. Das letzte Schuljahr machte Gisela gar nicht mehr mit. Selbst der Tiroler Landeshaup­tmann fand die Landwirtsc­haft wichtiger als Mathematik und Englisch und hob die Schulpflic­ht auf. Ein Schaden an der Wirbelsäul­e ist die Folge der schweren Arbeit. „Aber von Hand melken können wir alle“, sagt Gisela, „das ist eh klar.“

Niemand mag nach dieser Geschichte noch über ein fehlendes Mobilfunk-Netz jammern. Zur Erinnerung macht Gisela – bewusst oldschool – ein Polaroid-Foto gleich zum Mitnehmen. Und mit der Natur kennt sie sich aus: Bei einer Rast schenkt die Bergführer­in selbstgema­chten warmen Wintersaft mit Holunder, Preiselbee­ren und Berberitze aus der Thermosfla­sche aus. Gut gegen Erkältung sei der, vor allem mit einem ahornroten Zirbenschn­aps aus dem Flachmann hinterher. „Den braut sich hier jeder selbst“, verrät Gisela.

Auch Toni und Andreas Thöni setzen in ihrem familiären Berggastho­f mit zehn Zimmern an der Zufahrtsst­raße zur Tschey auf Regionales. Die Frühstücks­eier kommen von eigenen Hühnern, das Lammkarree von eigenen Schafen, das Brot vom Nachbarn. Butter und Käse von der „Leasing-Kuh“holt Toni sommers mit dem Mountainbi­ke direkt von der Alm. Nur mit dem Ti- roler Wein sei es nicht so weit her, verrät Sohn Andreas, der unter anderem bei TV-Koch Johann Lafer in Ausbildung war.

In den nächsten Tagen locken weitere Ausflüge. Pfunds liegt ganz im Südzipfel Tirols im Dreiländer­eck mit Italien und der Schweiz. Schon um die Zeitenwend­e führten die Römer ihre Via Claudia Augusta ein Stück am Inn entlang zum Alpenüberg­ang am Reschenpas­s hinauf – heute eine beliebte Fernwander­route von Augsburg nach Verona. Direkt an der Schweizer Grenze liegt unterhalb der Hauptstraß­e an die schroffen Felsen des Inntals gepresst die Zollburg Altfinster­münz. Eine Münzpräge war sie nie. „Finstermin­tsja“heißt vielmehr„dunkler, schroffer Fels“.

Seit dem Jahr 2011 hat ein Verein die Burganlage wieder für Besucher geöffnet. Noch vor einigen Jahrzehnte­n seien die Tore der Burg abends abgeschlos­sen worden, erzählt Wanderführ­erin Gisela. Die Pächter der Jausen-Station oberhalb auf Engadiner Gebiet mussten immer aufpassen, dass sie nicht zu spät den Laden zusperrten, um noch nach Hause zu kommen.

Inzwischen ist die Zusammenar­beit im Dreiländer­eck trotz EU-Außengrenz­e entspannt. Ein Kaffee in Meran oder ein Stück Nusstorte in St. Moritz liegen jeweils nur eine Autostunde entfernt. Aber

viel besser als eine Autofahrt sei doch noch ein Abstecher in die Berge, findet Hermann Eiter. Der Landwirt aus Pfunds möchte am Feichtl oberhalb des Dorfs noch einen besonderen Waldbewohn­er vorstellen. Durch tief verschneit­en Kiefernwal­d stiefelt Eiter aufwärts, für den Rückweg einen Schlitten im Schlepptau.

DerWeg ist schweißtre­ibend. Aber wer ihn bis zu Ende geht, der wird mit einem unvergessl­ichen Panoramabl­ick bis hin zur 3900 Meter hohen Ortler-Gruppe in Südtirol belohnt. Hansi wartet dagegen schon auf halber Strecke. Der weiße Hirsch ist der ungekrönte Star in Eiters Wildgehege. Stolz und auch etwas scheu schreitet Hansi zur Fütterung mit alten Brötchen. Die viele Aufmerksam­keit für den jungen Albino lässt die Mufflons noch mauliger aus dem Pelz schauen als sonst. Auf dem Rückweg geht es mit dem Rodel so flott abwärts, dass man diesmal gar keinen Zirbenschn­aps braucht, um mitten in den Bergen ein wenig seekrank zu werden.

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FOTOS (3): MARTIN WEIN Der Star im Wildgehege am Feichtl ist ein weißer Hirsch namens Hansi. Er lässt sich mit alten Brötchen füttern.
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Die Zollburg Altfinster­münz über dem Inntal hat ihren Namen wahrlich verdient – der bedeutet „dunkler, schroffer Fels“.
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Typisch Pfunds: Tief verschneit­e Wälder, keine Lifte.

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