Mit Farbe gegen Müll und Ignoranz
Curaçao hat mehr zu bieten als Sonne, Strand und Meer. Straßenkünstler erinnern an ihr kulturelles Erbe und fordern Selbstbestimmung.
VON BJÖRN LANGE
Es ist wie immer im Leben: Man muss sich entscheiden. Auf Curaçao kann man seinen Traumurlaub in der Karibik entweder auf bunten Sonnenliegen an mittelmäßigen Stränden neben etwas Plastikmüll vorüberziehen lassen oder man lässt sich auf Land und Leute ein und entdeckt eine kulturelle Melange, die ihresgleichen sucht. Denn überall auf der 60 Kilometer nördlich von Venezuela liegenden Insel treten die Zeugen ihrer wechselvollen Geschichte offen zutage – in der Sprache, im Straßenbild, in der Küche und in der Musik.
Alle waren sie hier, zuerst die Spanier, dann die Niederländer und später auch die Engländer und Franzosen. Mit den Kolonialmächten kamen zehntausende Sklaven aus Afrika und anderen Teilen der Karibik, die im Laufe der Jahrhunderte bei der harten Arbeit auf dem Feld ihre eigene Sprache, Musik, Tänze und Identität schufen. Auch wenn die Amtssprache in dem zum niederländischen Königreich gehörenden Land Niederländisch ist, verständigen sich die rund 160.000 Insulaner bis heute in Papiamentu, einer wilden Mischung aus Portugiesisch, afrikanischen Sprachen, Spanisch, Niederländisch, Französisch, Englisch und Arawak. Menschen aus über 50 Nationen haben auf Curaçao ihre Heimat gefunden, nur die indianischen Ureinwohner vom Stamm der Arawak findet man hier nicht mehr. Seit der Mitte des 15. Jahrhunderts waren sie von den Spaniern als Sklaven auf die iberische Halbinsel gebracht worden.
Ebenso schräg wie die Sprache ist die Küche auf dem kleinen Eiland, das nicht größer ist als Usedom. Überall, insbesondere in der Hauptstadt Willemstad, lassen sich verrückte Crossover-Variationen aus niederländisch-kreolischer und karibisch-asiatischer Kost entdecken. Fisch, Fleisch, Gemüse – alles frisch und zumeist lokalen Ursprungs. Nun sollte man meinen, dass sich das Leben auf dem sonnenverwöhnten Karibikinselchen ziemlich unbeschwert genießen ließe. Doch trotz scheinbarer Idylle bröckelt die Identität Curaçaos. Denn während die alte Generation ihr großes kulturelles Wissen mit ins Grab nimmt, verlässt der Nachwuchs die Heimat in Scharen Richtung Europa und sucht sein Glück zumeist in den Niederlanden. Zu stark ist der Sog Europas. Garrick Marchena hat- te jedenfalls die Schnauze voll. Der Künstler war genervt von dem mangelnden Stolz seiner Landsleute, von der Ignoranz der lokalen Regierung und der Umweltverschmutzung. Es war der Neujahrstag 2012, als er zur Tat schritt. In der Kuiperstraat im Herzen Willemstads, einer üblen Kneipenstraße voll von Prostituierten und Drogenabhängigen, die jede Nacht den Tambú tanzten, diesen rhythmisch-aggressiven Nachfolger der Sklaventänze, trat er vor eine weiße Häuserwand und malte. An fünf Sonntagen entstand sein Werk „Angelito Negro“, kleiner schwarzer Engel, ein Kindergesicht mit Engelsflügeln und Heiligenschein. „Jeder liebt Kinder. Mit diesem Bild wollte ich endlich Frieden in dieses selbstzer- störerische Viertel bringen“, so der Künstler.
Marchenas ausdrucksstarke Wandgemälde verteilen sich über die ganze Insel und sind allgegenwärtig in Willemstad. 2015 malte er in der van Speykstraat unter dem Titel „Nos Despensa“(Verzeiht uns) ein weinendes Mädchen auf ein Haus, das seinen traurigen Blick anklagend Richtung Meer wirft – genau dorthin, wo eine niederländische Firma zuvor ein Grundstück gekauft und dann den Strandabschnitt für die Allgemeinheit unzugänglich gemacht hatte. Dazu textete er auf Papiamentu: „Sie kommen. Sie sperren ab. Sie nehmen. Sie fragen nicht. Und wir lassen sie“. Das wohl kraftvollste der 30 Werke des StreetArt-Künstlers befindet sich je- doch an der belebten Plaza Jojo Correa und heißt „Ami ta Kòrsou“, ich bin Curaçao. Es zeigt einen riesigen Adler auf einem Ast, neben ihm ein Gedicht in goldenen Lettern, das auf Papiamentu eindringlich die Schönheit der Insel, ihre Historie und das Erinnern anmahnt.
Auf einem anderen Bild bricht ein Adler als Zeichen der Befreiung und Emanzipation durch eine Häuserwand. Immer wieder taucht der mächtige Vogel in Marchenas Werken auf. Jahrhundertelang hatte sein Volk gegen die Sklaverei und für die Freiheit gekämpft, und jetzt unterdrückt es sich selbst. Dass ein Großteil der Curaçaoaner den natürlichen Reichtum der Insel nicht erkennt, zeigen die Müllberge an Straßenrändern, an Strän- den, auf Parkplätzen. Marchena beantwortet den Plastikmüll mit Kunst: An sechs Orten, die auf der Insel besonders von der Vermüllung betroffen sind, lässt er gemeinsam mit Schulkindern Kunstwerke entstehen.
Auch andere Street-ArtKünstler wie die Brüder Omar und Francis Sling und Nena Sanchez haben sich auf den Fassaden Willemstads farbenfroh verewigt. Und auch ihre Werke zeigen, was es zu beschützen gilt. Eine noch stärkere Wucht entfaltet die Kunst von Yubi Kirindongo. Der 73-jährige Recyclingkünstler lebt zurückgezogen mit seiner Frau, seinem Krokodil und zehn Hunden in seinem bunten, selbst gebauten Haus und lässt ab und zu Be-
sucher in seinen Museumsgarten. Aus Reifen, alten Stoßstangen, Plastikmüll und anderem Schrott, den er auf der Insel findet, schuf und schafft er Kunstwerke, die ihm weltweites Ansehen brachten.
Curaçao erfindet und definiert sich neu. Ausgehend von der Kraft der Kunst entsteht eine neue Identität, die die Vergangenheit nicht leugnet, die Gegenwart beschützen und die Zukunft selbst gestalten will. Auch als Tourist kann man diese Aufbruchsstimmung spüren, wenn man will. Am Strand liegen kann man schließlich auch in Holland. www.curacao-art.com
Die Redaktion wurde bei dieser Reise vom Tourismusverband Curaçao unterstützt.