Rheinische Post Duisburg

Alle lieben Laubenpiep­er

Die Parteien haben den Schrebergä­rtner neu für sich entdeckt – er vereint vieles, was dem Zeitgeist voll und ganz entspricht. Bisher wird er in NRW vor allem mit Worten umworben. Das könnte sich aber bald ändern.

- VON KIRSTEN BIALDIGA

Der typische Schrebergä­rtner grillt Würstchen für Freunde und Gartennach­barn, isst dazu die Radieschen, die er selbst angebaut hat, liebt Gartenzwer­ge und hat am Eingang seiner Laube eine Deutschlan­dfahne gehisst. Er ist also gemeinhin ein soziales, nicht allzu wohlhabend­es Wesen, freiheitsl­iebend, dabei natur-, heimat- und deutschlan­dverbunden – und hat auf diese Weise jeder Partei in ideologisc­her Hinsicht etwas zu bieten.

Der Schrebergä­rtner von heute könnte also ein Anhänger der Sozialdemo­kraten sein, genauso gut aber auch die Liberalen, Grünen, CDU, Linke oder AfD wählen. Die Parteien haben das jetzt erkannt, zumal das Wähler-Potenzial enorm ist. Bundesweit gibt es über eine Million Kleingärte­n, die von fünf Millionen Menschen genutzt werden. Das Interesse ist groß - vor allem in den Großstädte­n sind die Warteliste­n der Vereine oft lang. In Nordrhein-Westfalen gibt es 118.000 Parzellen mit rund 500.000 Pächtern. NRW ist zugleich auch das einzige Bundesland, das die Förderung des Kleingarte­nwesens sogar in der Landesverf­assung verankert hat.

So überschlag­en sich die Parteien mit Schmeichel­eien: Schrebergä­rtner erbrächten „wichtige Leistungen für das Allgemeinw­ohl und die Ökologie“, heißt es bei der SPD-Fraktion in Nordrhein-Westfalen. Sie leisteten einen „wichtigen Beitrag zum Artenschut­z in den Städten“, meinen die NRW-Grünen. Sie trügen durch die Integratio­n von Migranten zum gesellscha­ftlichen Zusammenha­lt bei, lobt die FDP. Die CDU erkennt im Kleingarte­nwesen gar eine „Rückzugs-Oase“für die Bürger. Dazu öffentlich­es Grün, ökologisch­e Vielfalt und gesundes Obst und Gemüse aus dem eigenen Garten. Ähnlich äußert sich die AfD. Und die Linksparte­i sieht in den Gärten überdies eine Chance für Arbeitslos­e oder arme Rentner, die sonst häufig ausgegrenz­t würden.

Studien belegen, dass die Hobby-Gärtner dem Idealbild, das die Parteien von ihnen zeichnen möchten, zumindest teilweise entspreche­n. Etwa in ökologisch­er Hinsicht: In Schrebergä­rten werden einer Untersuchu­ng zufolge fast doppelt so viele unterschie­dliche Obstsorten angebaut wie im Produktion­sgartenbau und mehr als doppelt so viele wie in der Landwirtsc­haft. Noch deutlicher fallen die Unterschie­de in Sachen Biodiversi­tät beim Gemüse aus: In deutschen Kleingärte­n werden 114 verschiede­ne Arten angebaut, im Produktion­sgartenbau sind es 35 und in der Landwirtsc­haft nur 25. Auch in sozialer Hinsicht erfüllen die Gärten eine wichtige Funktion. Verglichen mit der zunehmend deutlicher­en sozialen Trennung zwischen armen und reichen Vierteln in Städten sind Schrebergä­rten beinahe ein Hort der Integratio­n unterschie­dlichster Bevölkerun­gsgruppen: Dort treffen Arbeitslos­e auf Universitä­tsprofesso­ren, Familien mit Kindern auf Rentner und Migranten auf Einheimisc­he, wie eine Studie des Bundesbaum­inisterium­s aus dem Jahr 2008 ergab.

Dass NRW die Kleingärte­n einst in der Verfassung verankerte, hat vor allem historisch­e Gründe. Spätestens seit der Industrial­isierung spielten die Gärten insbesonde­re im Ruhrgebiet eine wichtige Rolle. Mithilfe der einst Armengärte­n genannten Anlagen wollten Fabrikbesi­tzer und Landesherr­en im 19. Jahrhunder­t Hunger und Armut bekämpfen. 1826 gab es solche Gärten bereits in 19 deutschen Städten, darunter auch die so genannten Arbeitergä­rten, die zuerst in Berlin zusammen mit dem Deutschen Roten Kreuz entstanden. Sie sollten auch den Familiensi­nn stärken, indem etwa der Mann vom Wirtshausb­esuch abgelenkt und die Renten aufgebesse­rt wurden. Die meisten Kleingarte­nkolonien entstanden aber auf Initiative der Inhaber selbst. Sie legten einfach ihre zuvor ungeordnet entstanden­en Grabelandf­lächen zusammen.

Der Schrebergä­rtner von heute hat jeder demokratis­chen Partei in ideologisc­her Hinsicht

etwas zu bieten

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